"Die
Alte"


eine "Povest"
von
Daniil
Charms
aus
dem Russischen übertragen von
Frank
Jankowski
Stand:
1989
-
unveröffentlicht -
(die
Anmerkungen befinden sich vorerst noch am Schluß - werden evt. als
Hyperlinks eingebunden)
...und
zwischen ihnen entspann sich folgendes Gespräch
Hamsun
Auf dem Hof steht eine alte Frau und hält eine Wanduhr in ihren Armen.
Ich gehe an der Alten vorbei, halte an und frage "Wie spät ist
es?"
"Schauen Sie hin", sagt die Alte. Ich schaue hin und sehe, daß
die Uhr keine Zeiger hat.
"Es sind keine Zeiger dran", sage ich.
Die Alte schaut auf das Zifferblatt und sagt: "Es ist jetzt Viertel
nach zwei."
"Ach so, vielen Dank", sage ich und gehe weg. Die Alte ruft
mir irgend etwas hinterher, aber ich gehe weiter ohne mich umzudrehen.
Ich gehe raus auf
die Straße; gehe auf der sonnenbeschienenen Seite. Die Frühlingssonne
ist sehr angenehm. Ich schlendere ein wenig, kneife die Augen zusammen
und rauche eine Pfeife. An der Ecke Sadovijstraße begegnet mir ganz
zufällig Sakerdon Michajlovitsch. Wir begrüßen uns, bleiben
stehen und unterhalten uns eine Weile. Es wird mir lästig, auf der
Straße zu stehen und ich schlage Sakerdon Michajlovitsch vor, in
eine Kellerkneipe zu gehen.
Wir trinken Wodka und essen zur besseren Bekömmlichkeit ein hartgekochtes
Ei mit Sprotte dazu, dann verabschieden wir uns, und ich gehe allein weiter.
Da fällt mir plötzlich ein, daß ich vergessen habe, den
Elektroherd abzustellen. Das ärgert mich sehr. Ich gehe nach Hause.
Der Tag hat so gut begonnen, und hier schon das erste Mißgeschick.
Ich hätte nicht rausgehen sollen.
Ich komme nach Hause,
lege die Joppe ab, ziehe die Uhr aus der Westentasche und hänge sie
an einen kleinen Nagel; danach schließe ich die Tür ab und
lege mich auf die Schlafcouch. Ich werde ein bißchen liegenbleiben,
und versuchen einzuschlafen. Von der Straße hört man das widerwärtige
Krakelen kleiner Jungs. Ich liege da und denke mir eine Hinrichtungsmethode
für sie aus. Am besten würde mir gefallen, ihnen einen Starrkrampf
anzuhexen, damit sie auf der Stelle aufhören sich zu bewegen. Einer
nach dem anderen werden sie dann von ihren Eltern nach Hause geschleppt.
Sie liegen in ihren Betten und sind nicht einmal im Stande zu essen, weil
sie ihre Münder nicht aufkriegen. Sie werden künstlich ernährt.
Nach einer Woche vergeht der Starrkrampf, aber die Kinder sind so schwach,
daß sie noch einen vollen Monat das Bett hüten müssen.
Und wenn sie dann ganz allmählich genesen sind, dann hänge ich
ihnen einen zweiten Starrkrampf an, und alle müssen krepiere.
Ich liege mit geschlossenen
Augen auf der Schlafcouch und kann nicht einschlafen. Ich erinnere mich
an die Alte mit der Uhr, die ich heute Morgen im Hof gesehen habe, und
es verschafft mir ein angenehmes Gefühl, daß ihre Uhr keine
Zeiger hatte. Wenn man bedenkt, daß ich neulich in der Pfandleihe
ganz scheußliche Küchenuhren gesehen hatte, deren Zeiger als
Messer und Gabel gemacht waren! Mein Gott! Jetzt habe ich den Elektroherd
immer noch nicht abgestelt. Ich springe auf und schalte ihn aus, dann
lege ich mich wieder auf die Schlafcouch und bemühe mich einzuschlafen.
Ich schließe die Augen. Ich bin gar nicht müde.
Die Frühlingssonne
scheint durchs Fenster direkt auf mich. Mir wird warm. Ich stehe auf und
setze mich in den Sessel am Fenster. Jetzt bin ich zwar müde, will
aber nicht mehr schlafen. Ich nehme mir Papier und Füllfederhalter
um zu schreiben. Ich spüre eine eigenartige Kraft in mir. Ich habe
gestern schon alles gründlich durchdacht. Es wird eine Erzählung
über einen Wundertäter, der in der heutigen Zeit lebt, jedoch
keine Wunder vollbringt. Er weiß, daß er ein Wunderäter
ist und kann jedes beliebige Wunder vollbringen, aber er tut es nicht.
Er wird aus seiner Wohnung geschmissen, und er weiß, daß es
ihn ledigich ein Achselzucken kosten würde und er die Wohnung behalten
könnte., aber tut es nicht, er zieht gehorsam aus, und lebt vor der
Stadt in einer Scheune. Er könnte diese Scheune in ein herrliches
Ziegelsteinhaus verwandeln, aber er tut es nicht, er lebt weiter in der
Scheune und stirbt letzten Endes, ohne im Laufe seines Lebens auch nur
ein einziges Wunder vollbracht zu haben.
Ich sitze da und reibe
mir vor lauter Freude die Hände. Sakerdon Michajlovitsch wird vor
Neid erblassen. Er denkt, daß ich nicht mehr fähig bin, geniale
Sachen zu schreiben. Schnell, schnell an die Arbeit! Nieder mit jeglichem
Schlaf und jeglicher Faulheit. Ich werde achtzehn Stunden in eins durchschreiben.
Mein Körper vibriert förmlich vor lauter Ungeduld. Ich kann
mich nicht entscheiden, was ich machen soll. Ich müßte mir
Füllfederhalter und Papier vornehmen, und ich ergriff auch allerlei
Gegenstände allerdings ganz und gar nicht die, die ich benötigte.
Ich lief in der Stube hin und her: Vom Fenster zum Stuhl, vom Stuhl zum
Ofen, vom Ofen wieder zum Stuhl, dann wieder zum Divan und wieder zum
Fenster. Ich erstickte beinahe an dem Feuer das in meiner Brust loderte.
Jetzt ist es erst fünf Uhr. Der Tag liegt noch vor mir, und außerdem
der ganze Abend und die ganze Nacht...
Ich stehe in der Mitte
der Stube. Wo habe Ich denn nur meine Gedanken? Es ist ja schon zwanzig
nach fünf. Ich muß schreiben. Ich rücke den Stuhl ans
Fenster und setze mich darauf. Vor mir das karierte Papier, in meiner
Hand der Füllfederhalter.
Mein Herz schlägt noch zu heftig und meine Hand zittert. Ich warte,
um mich ein bißchen m beruhigen. Ich lege den Füllfederhalter
hin und stopfe die Pfeife. Die Sonne scheint mir direkt in die Augen.
Ich kneife die Augen zusammen, und stecke mir die Pfeife an.
Da fliegt ein Rabe am Fenster vorbei. Ich schaue aus dem Fenster und sehe,
wie ein Mann mit einer Beinprothese den Bürgersteig entlanggeht.
Sein Bein und sein Stock verursachen laute Klopfgeräusche. "Schau
an!", sage ich zu mir selbst und schaue weiter aus dem Fenster. Der
Schatten eines Schornsteins fällt vom Dach, und legt sich quer über
die Straße bis auf mein Gesicht. Ich muß den Schatten ausnutzen
und ein paar Worte über den Wundertäter schreiben. Ich nehme
den Füllfederhalter und schreibe: "Der Wundertäter war
von hohem Wuchs."
Ansonsten schreibe
ich nichts ich kann nicht. Ich bleibe solange sitzen, bis sich der Hunger
meldet. Alsdann stehe ich auf, gehe zu dem Schränkchen wo ich die
Vorräte aufbewahre und stöbere darin herum , kann jedoch nichts
finden. Eine Zuckerdose, sonst nichts.
Es klopft jemand an
die Tür. "Wer ist da?". Niemand antwortet mir. Ich mache
die Tür auf und erkenne vor mir die alte Frau, die morgens mit der
Uhr auf dem Hof gestanden hat. "So, da bin ich!", sagt die Alte
und tritt ein. Ich stehe an der Tür und weiß nicht was ich
machen soll: Die Alte rauswerfen, oder genau das Gegenteil, ihr einen
Sitzplatz anbieten? Aber die Alte geht einfach zu meinem Sessel vor dem
Fenster und setzt sich hinein. "Mach die Tür zu und schließ
ab!", sagt die Alte zu mir. Ich mache sie zu und schließe ab.
"Knie nieder!", sagt die Alte. Und ich kniee mich hin. Aber
da wird mir die ganze Unsinnigkeit meiner Handlung bewußt. Wozu
knie ich vor einer x-beliebigen alten Frau nieder? Ja, und wieso befindet
sich diese Alte überhaupt in meiner Wohnung und sitzt in meinem Lieblingssessel.
Warum werfe ich die Alte nicht einfach raus? "Hören Sie doch
mal", sage ich, "mit welchem Recht verfügen Sie hier über
meine Stube und kommandieren mich auch noch herum? Ich will überhaupt
nicht niederknien."
"Und mußt es auch gar nicht", sagt die Alte, "Jetzt
wirst Du Dich nämlich auf den Bauch legen mit dem Gesicht fest auf
den Fußboden!" Ich führte den Befehl sogleich aus. Vor
meinen Augen erscheinen wahrhaftig gezeichnete Quadrate. Schmerzen in
der Schulter und in der rechten Hüfte hindern mich daran, die Stellung
zu verändern. Ich lag mit dem Gesicht nach unten, und komme nun mit
größter Anstrengung wieder hoch auf die Kniee. Meine sämtlichen
Glieder waren eingeschlafen und arg verkrümmt. Ich schaue herum und
sehe mich selbst in meiner Stube knien mitten auf dem Fußboden.
Langsam erlange ich das Bewußtsein und das Gedächtnis wieder.
Ich blicke noch einmal in der Stube umher und sehe, daß im Sessel
am Fenster scheinbar jemand sitzt. In der Stube ist es einigermaßen
hell, denn es müßte gerade die Zeit der weißen Nächte
sein. Ich schaue mich aufmerksam um. Mein Gott! Ist es möglich, daß
die Alte noch in meinem Sessel sitzt? Ja, natürlich, da sitzt die
Alte, der Kopf ist ihr auf die Brust gesunken. Möglicherweise ist
sie eingeschlafen. Ich richte mich auf und gehe leicht hinkend zu ihr.
Der Kopf der Alten ist auf die Brust gesunken und ihre Arme hängen
schlaff über der Sessellehne. Am liebsten würde ich die Alte
packen und hinauswerfen. "Hören Sie!", sage ich, "Sie
befinden sich in meiner Wohnung. Ich habe zu arbeiten. Ich bitte Sie jetzt
zu gehen." Die Alte bewegt sich nicht. Ich beuge mich hinunter und
schaue der Alten ins Gesicht. Aus ihrem halbgeöffneten Mund ragt
ein abgesprungenes künstliches Gebiß hervor. Und plötzlich
wird mir alles klar: Die Alte ist gestorben. Ein seltsames Gefühl
von Ärger erfaßt mich. Wozu ist sie in meiner Wohnung gestorben?
Ich kann keine Toten ertragen. Jetzt muß ich mich auch noch mit
diesem Kadaver abmühen geh, sprich mit dem Hausmeister und mit dem
Hausverwalter, erklär ihnen warum sich die Alte plötzlich bei
Dir befand. Ich blicke die Alte haßerfüllt an. Aber Vielleicht
ist sie ja gar nicht gestorben? Ich befühle ihre Stirn. Die Stirn
ist kalt. Ihre Hand ebenfalls. Was soll ich denn nun machen? Ich stecke
mir eine Pfeife an und setze mich auf die Schlafcouch. Eine wahnsinnige,
Wut steigt in mir hoch. "Da hast Du's Du Schlampe!", sage ich
laut. Die tote Alte sitzt wie ein Sack in meinem Sessel. Ihre Zähne
ragen aus dem Mund. Sie hat Ähnlichkeit mit einem toten Pferd. "Widerlicher
Anblick!', sage ich und doch kann ich sie unmöglich mit einer Zeitung
bedecken, weil...wer weiß, was dann unter der Zeitung vor sich geht.
Hinter der Wand höre
ich Geräusche. Es ist mein Nachbar, der aufsteht ein Lokomotivführer.
Das hätte mir gerade noch gefehlt, daß der Wind davon bekommt,
daß in meiner Stube eine tote alte Frau sitzt. Ich lausche den Schritten
meines Nachbarn. Worauf wartet er denn? Es ist bereits halb sechs. Er
müßte doch längst weg sein. Mein Gott er will Tee trinken.
Ich höre, wie er hinter der dünnen Wand mit dem Petroleumkocher
klappert. Ach würde doch dieser verfluchte Lokführer nur endlich
abhauen. Ich hieve meine Beine auf die Couch und liege da. Es vergehen
acht Minuten, aber der Tee meines Nachbar ist immer noch nicht fertig,
und der Petroleumkocher klappert nach wie vor. Ich schließe die
Augen und schlummere ein.
Ich träume, daß mein Nachbar weggeht, ich mit ihm zusammen
hinausgehe und meine Tür mit dem französischen Schloß
zuschlage. Ich habe keinen Schlüssel, kann nicht mehr zurück
in die Wohnung. Ich müßte klingeln und damit die anderen Mitbewohner
aufwecken aber das ist nun wirklich ausgeschossen. Ich stehe auf dem Teppenabsatz,
überlege was ich tun soll, und plötzlich merke ich, daß
ich keine Hände habe. Ich neige nach vorne, um besser sehen zu können,
ob ich noch Arme habe und stelle fest, daß aus der einen Seite meines
Rumpfes anstelle von einem Arm ein Tischbein herausragt, und aus der anderen
eine Gabel. "Hier", sage ich zu Sakerdon Michajlowitsch, der
unerklärlicherweise plötzlich auf einem Klappstuhl sitzt. "Hier,
sehen Sie", sage ich zu ihm, "was für Arme ich habe! Aber
Sakerdon Michajlowitsch sitzt schweigend da, und ich sehe, daß es
gar nicht der echte Sakerdon Michajlowitsch ist, sondern einer aus Ton.
Ich schrecke auf und mir ist sofort klar, daß ich in meiner Stube
auf der Couch liege, und die tote Alte im Sessel am Fenster sitzt.
Ich drehe mich schnell zu ihr hin. Die Alte sitzt nicht mehr im Sessel.
Ich betrachte den leeren Sessel und eine wilde Freude erfüllt mich.
Das bedeutet, daß alles ein Traum war, Aber wo hat er denn begonnen?
Ob die Alte gestern in meine Wohnung gekommen ist? Möglicherweise
war ja auch das nur ein Traum. Ich bin gestern zurück gegangen, weil
ich vergessen hatte, den Elektroherd abzuschalten. Aber vielleicht war
ja auch das ein Traum. Wie dem auch sei; gut daß in meiner Stube
keine tote alte Frau sitzt. Und das bedeutet ja auch, daß ich nicht
zum Hausverwalter gehen, und mich nicht mit der Toten abplagen muß.
Aber wie lange habe ich denn bloß geschlafen? Ich schaute auf die
Uhr: Halb neun wahrscheinlich morgens. Meine Güte, was man sich nicht
alles zusammenträumt. Ich ließ meine Beine von der Schlafcouch
gleiten und schickte mich an aufzustehen, als ich plötzlich die tote
Alte erblickte, wie sie auf dem Boden unter dem Tisch beim Sessel lag.
Sie lag auf dem Rücken, und das künstliche Gebiß, das
ihr aus dem Mund gefallen war, stakte der Alten mit einem Zahn im Nasenloch.
Ihre Arme waren irgendwie unter den Rumpf geraten, so daß man sie
nicht sehen konnte, und unter dem umgestülpten Rock lugten knochige
Seine in schmutzigweißen Wollstrümpfen hervor. "Schlampe!",
schrie ich, rannte zu der Alten und versetzte ihr mit dem Stiefel einen
Tritt unters Kinn. Das künstliche Gebiß flog im hohen Bogen
in eine Ecke. Ich wollte der Alten noch einen Hieb versetzen, befürchtete
jedoch, daß an ihrem Körper Merkmale zurückbleiben könnten,
die andere dann auch noch zu dem Schluß veranlassen könnten,
ich hätte sie ermordet.
Ich ließ von
der Alten ab, setzte mich auf die Couch und steckte mir eine Pfeife an.
So vergingen zwanzig Minuten. Dann kam ich langsam zu der Überzeugung,
daß es mir einerlei sein konnte, ob man die ganze Angelegenheit
einer Untersuchungskommission übergab und ob mich der Hampelmann,
der die Ermittlungen führen würde, eines Mordes bezichtigte
oder nicht. Dennoch war die Situation ziemlich prekär und dann auch
noch der Tritt mit dem Stiefel. Abermals ging ich zu der Alten, beugte
mich zu ihr runter und machte mich daran ihr Gesicht zu untersuchen. An
ihrem Kinn war ein kleiner dunkler Fleck. Nein, daran war nichts zu rütteln.
Aber wer weiß, die Alte könnte sich ja auch an irgend etwas
gestoßen haben als sie noch lebte. Ich beruhigte mich ein wenig.
Eine Pfeife rauchend und meine Lage überdenkend, fing ich an, in
der Stube umherzuwandern. Ich wandere so lange in der Stube umher, bis
sich der Hunger meldet, der immer unerträglicher wird. Vor lauter
Hunger fange ich sogar an zu zittern. Und noch einmal durchstöbere
ich das Schränkchen, wo ich meine Vorräte aufbewahre, finde
jedoch nichts außer der Zuckerdose. Ich hole meine Brieftasche hervor
und zähle das Geld. Elf Rubel. Das bedeutet, daß ich mir Schinkenwürste
und Brot kaufen kann und dann noch ein bißchen für Tabak übrigbleibt.
Ich zupfe die in der Nacht verknautschte Krawatte wieder zurecht, nehme
die Taschenuhr, ziehe die Joppe über, gehe hinaus in den Korridor,
schließe sorgfältig meine Stubentür ab, lege den Schlüssel
in meine Börse und gehe hinaus auf die Straße. Vor allem muß
ich jetzt unbedingt etwas essen, dann werden die Gedanken klarer; und
hinterher werde ich mich dann mit der Leiche befassen.
Auf dem Weg zum Laden
beschleicht mich die Idee, einen kurzen Abstecher zu Sakerdon Michajlovitsch
zu machen und ihm alles zu erzählen, vielleicht würden gemeinsam
schneller eine Lösung finden. Aber ich verbanne diesen Gedanken sofort
wieder aus meinem Kopf, weil man gewisse Angelegenheiten eben allein regeln
muß - ohne Zeugen. In dem Laden gab es keine Schinkenwürste,
und so kaufte ich mir ein halbes Kilo Sardelken. Tabak hatten sie auch
nicht. Vom Laden ging ich direkt in eine Bäckerei. In der Bäckerei
waren eine Menge Leute, und an der Kasse stand eine lange Schlange. Ich
blickte unwillkürlich finster drein, mußte mich aber trotzdem
hinten anstellen. Die Schlange kam nur sehr langsam voran, und dann ging
es schließlich überhaupt nicht mehr weiter, weil an der Kasse
irgendein Krawall entstanden war. Ich tat, als bemerke ich nichts von
all dem und betrachtete den Rücken einer jungen Frau, die vor mir
in der Schlange stand. Das Fräulein war offenbar sehr neugierig:
Sie reckte den Hals bald nach rechts, bald nach links und stand ständig
auf den Zehenspitzen um besser sehen zu können, was an der Kasse
vor sich ging. Schließlich drehte sie sich nach mir um und fragte
"Wissen Sie zufällig, was da los ist?" - "Sie werden
verzeihen, nein.", sagte ich so trocken wie möglich. Das Fräulein
reckte sich eine Weile nach verschiedenen Seiten und wandte sich dann
wieder mir zu: "Könnten Sie nicht mal hingehen um herauszufinden,
was dort vor sich geht?" - "Verzeihen Sie, das interessiert
mich im Geringsten", sagte ich noch trockener. "Wie, das interessiert
Sie nicht?", rief das Fräulein aus, "Aber Sie werden doch
selbst aufgehalten!". Ich erwiderte nichts, verneigte mich nur leicht.
Das Fräulein musterte mich aufmerksam. "Es ist natürlich
keine Männersache, sich an Schlangen anzustellen, um Brot einzukaufen",
sagte sie. "Sie tun mir leid, müssen hier anstehen. Sie sind
bestimmt Junggeselle, nicht wahr?" - "Ja, ich bin Junggeselle",
antwortete ich, ohne den eigentlich gewünschten Ton zu erwischen;
aber der Trägheit wegen fuhr ich fort, ziemlich trocken zu antworten
und mich dabei leicht zu verneigen. Das Fräulein betrachtete mich
noch einmal von Kopf bis Fuß, tippte mir dann unvermittelt mit dem
Finger an meinen Arm und sagte. "Lassen Sie mich einkaufen, was Sie
brauchen, und warten Sie draußen auf mich." Ich war völlig
verdutzt. "ich danke Ihnen", sagte ich, "das ist sehr liebenswürdig
von Ihnen, aber ich könnte das wirklich auch selber tun." -
"Nein, nein", sagte das Fräulein, "gehen Sie nur raus
- was wollten Sie denn einkaufen?" - "Also...", sagte ich,
"ich wollte ein halbes Kilo Schwarzbrot kaufen, aber dieses etwas
billigere Kastenbrot. Ich mag das lieber." - "Na schön!",
sagte das Fräulein, "Und nun gehen Sie, ich werde jetzt einkaufen
und hinterher rechnen wir ab." Und dann drängelte sie mich sogar
leicht beiseite, indem sie unter meinen Ellenbogen faßte. Ich verließ
die Bäckerei und stellte mich vor die Tür. Die Frühlingssonne
scheint mir direkt ins Gesicht. Ich stecke mir eine Pfeife an. Was für
ein liebenswürdiges Fräulein! So etwas ist heutzutage wirklich
selten. Ich stehe da, blinzele in die Sonne, rauche Pfeife und denke an
das liebenswürdige Fräulein. Sie hat so heitere braune Äuglein.
Einfach reizend, ihre Zuvorkommenheit! "Sie rauchen Pfeife?!",
hörte ich eine Stimme neben mir sagen. Es ist das liebenswürdige
Fräulein, das mir das Brot hinhält. "Oh, ganz herzlichen
Dank!", sage ich, während ich das Brot nehme. "Und Sie
rauchen also Pfeife. Das gefällt mir wirklich schrecklich gut!",
sagt das liebenswürdige Fräulein. Und zwischen uns entspann
sich folgendes Gespräch:
Sie: "So so, Sie müssen Ihr Brot also selber einkaufen!"
Ich: "Nicht nur das Brot; ich kaufe alles selber ein."
Sie: "Und wo essen Sie Mittag?"
Ich: "Normalerweise koche ich mir mein Mittagessen selbst; aber manchmal
esse ich auch in einem Bierkeller."
Sie: "Trinken Sie gerne Bier?"
Ich: "Nein, eigentlich trinke ich lieber Wodka."
Sie: "ich trinke auch sehr gerne Wodka."
Ich: "Sie trinken gerne Wodka?! Na das ist ja toll! Ich würde
irgendwann gerne mal einen mit Ihnen heben."
Sie: "Aber ja, auch ich würde gerne mal einen Wodka mit Ihnen
heben."
Ich: "Entschuldigen Sie, darf ich Sie mal etwas fragen?"
Sie: "(stark errötend) "Natürlich, fragen Sie nur!"
Ich: "Nun gut, ich frage. Glauben Sie an Gott?"
Sie: (erstaunt) "Ob ich an Gott glaube? Ja, natürlich."
Ich: "Und was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen vorschlagen würde,
Wodka zu kaufen und zu mir zu gehen? Ich wohne hier ganz in der Nähe."
Sie: (herausfordernd) "Na warum denn nicht? Von mir aus gerne!"
Ich: "Nun, dann lassen Sie uns gehen!"
Wir gehen noch einmal
in den Laden und ich kaufe einen halben Liter Wodka. Wir reden die ganze
Zeit über alles mögliche, und plötzlich fällt mir
ein, daß bei mir in der Stube auf dem Boden die tote Alte liegt.
Ich betrachte meine neue Bekannte: Sie steht am Regal und sondiert Gläser
mit Eingekochtem. Ich bahne mir vorsichtig einen Weg zur Tür und
verschwinde aus dem Laden. Gegenüber hat soeben eine Straßenbahn
angehalten. Ich springe auf die Straßenbahn auf, ohne auch nur auf
ihre Nummer geachtet zu haben. In der Michajlovskijstraße steige
ich aus und gehe zu Sakerdon Michailovitsch. In meinen Händen halte
ich eine Wodkaflasche, Sardelken und ein Brot.
Sakerdon Michajlovitsch
machte selbst auf. Er trug einen Morgenrock, den er sich über den
nackten Oberkörper gezogen hatte, ein paar russische Stiefel mit
abgetrennten Schächten, und eine Fellmütze mit Ohrenklappen
aber die Ohrenklappen waren nach oben geschlagen und mit einer Schleife
zusammengebunden. "Sehr erfreut, Sie zu sehen!",sagte Sakerdon
Michajlovitsch als er mich sah. "Störe ich Sie bei der Arbeit?",
fragte ich. "Nein, ganz und gar nicht", sagte Sakerdon Michajlovitsch,
"ich habe gerade nichts zu tun, saß einfach nur auf dem Fußboden."
"Hier, sehen Sie", sagte ich zu Sakerdon Michajlovitsch, "ich
habe Wodka und einen kleinen Happen zur besseren Bekömmlichkeit mitgebracht.
Wenn Sie nichts dagegen haben, lassen Sie uns einen heben." "Sehr
gut", sagte Sakerdon Michajlovitsch, "kommen Sie doch rein."
Wir gingen in seine Stube. Ich öffnete die Wodkaflasche und Sakerdon
Michajlovitsch stellte zwei Schnapsgläser und einen Teller mit gekochtem
Fleisch auf den Tisch. "Hier, ich habe Sardelken", sagte ich.
"Was meinen Sie, sollen wir sie so essen wie sie sind, oder wollen
wir sie kochen?" "Ich werde sie kochen", sagte Sakerdon
Michajlovitsch, "und bis sie gar sind essen wir das Fleisch und trinken
einen Wodka dazu. Übrigens ein vortreffliches Fleisch, in klarer
Brühe gegart!" Sakerdon Michajlovitsch stellte einen Topf auf
den Petroleumkocher und dann tranken wir einen Wodka.
"Wodka zu trinken ist gesund", bemerkte Sakerdon Michajlovitsch
während er sein Schnapsglas nachfüllte, "Metschnikov schrieb,
daß Wodka gesünder sei als Brot, denn Brot ist eigentlich nichts
anderes als eine Art Stroh, das schwer im Magen liegt." "Auf
Ihr Wohl!", sagte ich und stieß mit Sakerdon Michajlovitsch
an. Wir leerten die Gläser und aßen das Fleisch. "Lecker!",
sagte Sakerdon Michajlovitsch. Doch im selben Augenblick ertönte
in der Stube ein durchdringender Knall. "Was war das?", fragte
ich. Wir saßen schweigend da und lauschten. Plötzlich knallte
es abermals. Sakerdon Michajlovitsch sprang vom Stuhl auf, rannte zum
Fenster und riß die Gardine herunter. Was machen Sie denn?",
rief ich. Aber Sakerdon Michajlovitsch stürzte ohne zu antworten
zum Petroleumkocher, packte den abgedeckten Topf und stellte ihn auf den
Boden. "Zum Teufel auch!", sagte Sakerdon Michajlovitsch. "Ich
habe vergessen, Wasser in den Topf zu geben. Der Topf ist aus Emaille,
und nun ist die Emaille aufgeplatzt." "Ach so, verstehe!",
sagte ich kopfnickend. Wir setzten uns wieder an den Tisch. "Zum
Teufel mit den Sardelken", sagte Sakerdon Michajlovitsch, "dann
essen wir sie jetzt eben doch so." "Ich muß jetzt aber
wirklich unbedingt was essen!", sagte ich. "Essen Sie nur",
sagte Sakerdon Michajlovitsch und schob mir den Teller mit den Sardelken
näher ran. "ich habe nämlich gestern zum letzten Mal etwas
gegessen, mit Ihnen zusammen in der Kellerkneipe, und seitdem bin ich
nicht mehr dazu gekommen.", sagte ich. "Aber-aber!", sagte
Sakerdon Michajlovitsch. "ich habe die ganze Zeit über geschrieben",
sagte ich. "Teufel auch!", rief Sakerdon Michajlovitsch übertrieben
laut aus, "Was für eine Ehre, einem Genie gegenüber zu
sitzen!" "Und ob!", sagte ich. "Da haben Sie sicher
viel vorgelegt wie?", fragte Sakerdon Michajlovitsch. "Ja,",
sagte ich, "ich habe so lange geschrieben, bis das Papier alle war.
"Auf das Genie unserer Zeit!" , sagte Sakordon Michajlovitsch
das Schnapsglas erhebend. Wir leerten die Gläser. Sakerdon Michajlovitsch
aß gekochtes Fleisch und ich die Sardelken. Nachdem ich vier von
ihnen verdrückt hatte, steckte ich mir die Pfeife an und sagte: "Wissen
Sie, ich habe Sie nämlich besucht, um einer Verfolgung zu entkommen."
"Wer hat Sie denn verfolgt?", fragte Sakerdon Michajlovitsch.
"Eine Frau.", sagte ich. Und da Sakerdon Michajlovitsch daraufhin
nicht nachhakte, sondern sich nur schweigend einen Wodka einschenkte,
fuhr ich fort: "Ich habe sie in einer Bäckerei kennengelernt
und mich sofort verknallt." "Hübsch?", fragte Sakerdon
Michajlovitsch. "Ja", sagte ich, "ganz mein Typ."
Wir leerten die Gläser und ich fuhr fort: "Sie war einverstanden
mit zu mir zu kommen und Wodka zu trinken. Wir gingen in einen Laden;
aber ich mußte mich auf einmal ausreißen." "Hat
das Geld nicht gereicht?", fragte Sakerdon Michajlovitsch. "Nein,
das Geld hat zwar nur sehr knapp gereicht,", sagte ich, "aber
mir fiel ein, daß ich sie gar nicht in meine Stube lassen konnte."
"Was denn; war in Ihrer Stube eine andere Frau?", fragte Sakerdon
Michajlovitsch. "Ja. Wenn Sie so wollen, war in meiner Stube eine
andere Frau.", sagte ich grinsend. "Momentan kann ich überhaupt
niemanden mehr in meine Stube lassen." "Heiraten Sie sie; Sie
können mich dann zum Essen einladen.", sagte Sakerdon Michajlovitsch.
"Nein,", rief ich prustend vor Lachen, "diese Frau werde
ich bestimmt nicht heiraten!" "Na dann heiraten Sie doch die
aus der Bäckerei.", sagte Sakerdon Michajlovitsch. "Ja
aber mit wem wollen Sie mich denn noch alles verheiraten'?", sagte
ich. "Aber wieso denn?", sagte Sakerdon Michajlovitsch, während
er sein Gläschen füllte. "Auf Ihre Erfolge!" Wir leerten
unsere Gläser. Offensichtlich begann der Wodka langsam auf uns zu
wirken. Sakerdon Michajlovitsch nahm seine Fellmütze ab und schleuderte
sie aufs Bett. Ich stand auf und ging ein bißchen im Zimmer auf
und ab, wobei sich ein leichtes Schwindelgefühl bemerkbar machte.
"Wie stehen Sie eigentlich zu Toten?", fragte ich Sakerdon Michajlovitsch.
"Absolut negativ", sagte Sakerdon Michajlovitsch, "ich
habe Angst vor ihnen." "Ja, ich kann Tote auch nicht ertragen",
sagte ich. "Sollte mir mal ein Toter begegnen, und kein Verwandter
von mir sein, würde ich ihm sehr wahrscheinlich einen ordentlichen
Fußtritt verabreichen." "Es ist unnötig Leichen mit
Füßen zu treten", sagte Sakerdon Michajlovitsch. "Trotzdem:
Ich würde ihm glatt mit dem Stiefel in die Schnauze treten.",
sagte ich; "Ich kann Tote und Kinder nicht ertragen." "Ja,
Kinder ein niederträchtiges Pack.", pflichtete Sakerdon Michajlovitsch
mir bei. "Was ist denn Ihrer Meinung nach schlimmer: Tote oder Kinder?",
fragte ich. "Kinder sind wohl schlimmer, die belästigen einen
häufiger. Aber nichtsdestotrotz dringen Tote nicht einfach in unser
Leben ein.", sagte Sakerdon Michajlovitsch. "Haben Sie eine
Ahnung!", rief ich aus, verstummte jedoch sogleich wieder. Sakordon
Michajlovitsch betrachtete mich aufmerksam. "Möchten Sie noch
einen Wodka?", fragte er. "Nein!", sagte ich, und fügte,
nachdem ich mich besonnen hatte, hinzu: "Nein danke, ich möchte
keinen mehr." Ich trat an den Tisch heran und setzte mich.
Wir schweigen eine Weile. "Ich möchte Sie etwas fragen.",
sage ich. "Glauben Sie an Gott?"
Auf Sakerdon Michajlovitschs Stirn erscheinen Querfurchen und er sagt:
"Es gibt eine ganze Reihe von anstößigen Verhaltensweisen.
So wäre es zum Beispiel anstößig, einen Mann, der bei
Ihnen fünfzig Rubel Schulden hat, zu fragen falls Sie es sehen -,
wieso er sich eben erst zweihundert Rubel in die Geldbörse stecken
konnte. Es ist seine Angelegenheit, ob er Ihnen das Geld sofort gibt,
oder ob er es Ihnen noch verweigert; und die bequemste und angenehmste
Art solch einer Verweigerung besteht darin, zu lügen, daß er
das Geld nicht hat. Sie haben natürlich gesehen, daß der Mann
das Geld hat und genau dadurch rauben Sie ihm die Möglichkeit, Ihnen
das Geld einfach und auf bequeme Weise zu verweigern. Sie lassen ihm in
der Tat keine Wahl; und das ist eine Gemeinheit - eine anstößige
und taktlose Verhaltensweise. Und einem Mann die Frage zu stellen "Glauben
Sie an Gott?", ist ebenfalls eine anstößige und taktlose
Verhaltensweise."
"Nun ja", sagte ich, "aber das alles hat doch nichts miteinander
zu tun." "Ich vergleiche es ja auch gar nicht.", sagte
Sakerdon Michajlovitsch.
"Na schön,", sagte ich, "lassen wir das. Verzeihen
Sie mir nur, daß ich Ihnen eine anstößige und taktlose
Frage gestellt habe." "Aber natürlich," sagte Sakerdon
Michajiovitsch, "ich habe Ihnen ja nun einfach die Antwort verweigert."
"Ich hätte auch nicht geantwortet", sagte ich, "allerdings
aus einem anderen Grund." "Aus weichem denn?", fragte Sakerdon
Michajlovitsch träge. "Sehen Sie" sagte ich, "meiner
Meinung nach gibt es gar keine Menschen, die glauben oder nicht glauben.
Es gibt lediglich solche, die glauben, und solche, die nicht glauben wollen."
"Soll das heißen, daß diejenigen, die nicht glauben wollen,
ohnehin schon an etwas glauben," sagte Sakerdon Michajlovitsch, "und
diejenigen, die glauben wollen schon von vornherein an nichts glauben?"
"Vielleicht auch so", sagte ich, "ich bin mir nicht ganz
schlüssig." "Aber an was denn glauben, beziehungsweise
nicht glauben?... An Gott?", fragte Sakerdon Michajlovitsch. "Nein!",
sagte ich, "An die Unsterblichkeit." "Warum haben Sie mich
denn dann gefragt, ob ich an Gott glaube?" "Na ja, einfach weil
es irgendwie blöd klingen würde, zu fragen -'Glauben Sie an
die Unsterblichkeit?"', sagte ich zu Sakerdon Michajlovitsch und
stand auf. "Was denn, wollen Sie etwa gehen?", fragte mich Sakerdon
Michajlovitsch. "Ja es wird langsam Zeit." "Und was ist
mit dem Wodka?", sagte Sakerdon Michajlovitsch, "Schauen Sie,
es ist gerade noch ein Schluck für jeden drin." "Na dann
lassen Sie uns den noch trinken.", sagte ich.
Wir tranken den Wodka aus und aßen das restliche gekochte Fleisch
dazu. "Jetzt muß ich aber los. , sagte ich. "Auf Wiedersehen!',
sagte Sakerdon Michailovitsch während er mich durch die Küche
zur Tür begleitete, 'Und Danke für die Bewirtung!". "Ich
habe zu danken", sagte ich. "Auf Wiedersehen!"
Ich machte mich auf den Weg.
Als Sakerdon Michajlovltsch alleine war, räumte er den Tisch ab,
warf die leere Wodkaflasche in den Mülleimer, setzte sich wieder
die Fellmütze mit den Ohrenklappen auf und hockte sich unter dem
Fenster auf den Boden. Sakerdon Michajlovitsch nahm die Hände hinter
den Rücken, so daß sie nicht zu sehen waren, und unter dem
umgestülpten Morgenrock lugten seine nackten knochigen Beine hervor,
die in russischen Stiefeln mit abgetrennten Schächten steckten. Mit
meinen Gedanken beladen ging ich über den Newskij". Ich muß
jetzt unbedingt zum Hausverwalter und ihm alles erzählen. Und wenn
ich das mit der Alten über die Bühne gebracht habe, werde ich
mich solange vor die Bäckerei stellen, bis dieses liebenswürdige
Fräulein wiederkommt - notfalls den ganzen Tag. Immerhin schulde
ich ihr ja noch achtundvierzig Kopeken für das Brot, da habe ich
auch gleich einen wunderbaren Vorwand, um sie ausfindig zu machen. Falls
wir dann ein paar Gläschen Wodka heben, wird sich alles weitere von
selbst ergeben; und es schien, als müßten sich überhaupt
alle Dinge sehr einfach und befriedigend fügen.
An der Fontanka ging
ich rüber zu einem der Verkaufsstände und trank für das
restliche Kleingeld einen großen Krug Kwass. Der Kwass war schlecht
und viel zu sauer, und so mußte ich mit einem gräßlichen
Geschmack im Mund weitergehen. An der Ecke Litejnijstraße wurde
ich von einem Betrunkenen angerempelt, der schon nicht mehr geradeaus
gehen konnte. Er hatte Glück, daß ich keinen Revolver besitze,
sonst hätte ich ihn auf der Stelle abgeknallt. Bis zum Haus des Verwalters
muß ich dann mit einem vor Wut entstellten Gesicht herum gelaufen
sein, jedenfalls nehme ich das stark an, da sich fast alle Passanten nach
mir umdrehten. Ich betrat das Kontor. Auf einem Stuhl saß eine etwas
kleingeratene, schmuddelige, stupsnäsige, krummrückige weißblonde
Jungfer, die einen kleinen Handspiegel vors Gesicht hielt und sich Pomade
auf die Lippen schmierte.
"Wo ist denn
bitte der Hausverwalter?", fragte ich. Die Jungfer schwieg und beschmierte
sich weiterhin ihre Lippen. "Wo ist der Hausverwalter'?", wiederholte
ich mit erhobener Stimme. "Morgen, heute nicht.", antwortete
die schmuddelige, stupsnäsige, krumrnrückige, weißblonde
Jungfer. Ich ging hinaus. Auf der gegenüberliegenden Seite ging ein
Invalide mit einer Beinprothese und verursachte ein lautes Klopfgeräusch
mit seinem Bein und dem Stock. Sechs Jungen tobten hinter dem Invaliden
her und äfften dessen Gangart nach. Ich bog in den Haupteingang meines
Hauses ein und ging ein paar Treppen hoch, bis ich in der zweiten Etage
stehenblieb, weil mich ein geradezu ekelhafter Gedanke beschlichen hatte:
Die Alte müßte doch längst angefangen haben zu verwesen.
Ich habe das Fenster nicht zugemacht, und es heißt doch, daß
Tote bei geöffnetem Fenster noch schneller verwesen. So was Blödes
aber auch! Und dieser verdammte Hausverwalter ist auch erst morgen wieder
da! Einige Minuten verweilte ich unentschlossen auf dem Treppenabsatz,
dann ging ich weiter hoch. Kurz vor meiner Wohnungstür zögerte
ich nochmals. Sollte ich vielleicht doch zur Bäckerei gehen und dort
erst einmal auf das liebenswürdige Fräulein warten? Ich könnte
versuchen sie zu beschwören, daß sie mich zwei oder drei Nächte
bei sich aufnehmen muß. Aber da fällt mir ein, daß sie
heute ja schon Brot eingekauft hat, und das bedeutet, daß sie nicht
mehr in die Bäckerei gehen wird Na ja, und außerdem wird wahrscheinlich
sowieso nichts draus. Ich schloß die Wohnungstür auf und betrat
den Flur. Am Ende des Flurs brannte Licht, und Marja Vasiljevna, die irgendeinen
Lappen in den Händen hielt, scheuerte damit auf einem Tuch herum.
Als sie mich sah rief sie: "Da hat so ein alter Mann nas Ihnen gefragt!""
'Was denn für ein alter Mann?", fragte ich. "Weiß
is nist.", antwortete Marja Vasiljevna. "Wann war denn das?",
fragte ich. "Das weiß is auch nist", sagte Marja Vasiljevna.
"Wer hat darin mit dem alten Mann gesprochen?", fragte ich Marja
Vasiljewna. "ls!", antwortete Marja Vasiljevna. "Und dann
wissen Sie nicht, wann das war?", sagte ich. "Ungefähr
vor swei Stunden.", sagte Marja Vasiljevna. 'Und wie sah dieser alte
Mann aus?", fragte ich. "Das weiß is auch nist.",
sagte Marja Vasiljevna und ging in die Küche.
Ich ging zu meiner
Stube. 'Und jetzt" dachte ich "ist die Alte mir nichts, dir
nichts verschwunden. Ich werde meine Stube betreten und die Alte wird
weg sein ganz bestimmt. Mein Gott; das wäre ja zu schön um wahr
zu sein!" Ich schloß die Tür auf und begann sie langsam
zu öffnen. Vielleicht bildete ich es mit auch bloß ein, aber
da stieg ein süßlicher Geruch von beginnender Verwesung in
meine Nase. Ich linste durch den Türspalt und erstarrte im selben
Augenblick:
Auf meinem Stubenfußboden
kauerte die Alte und kam ganz langsam auf mich zu gekrochen. Mit einem
Aufschrei des Entsetzens knallte ich die Tür zu, drehte den Schlüssel
um und machte einen Satz zurück an die gegenüberliegende Wand.
Marja Vasiljevna erschien im Flur. "Haben Sie mich gerufen?",
fragte sie. Ich zitterte wie Espenlaub, und da ich nicht imstande wer
irgend etwas zu sagen, schüttelte ich nur den Kopf. Marja Vasiljevna
kam etwas näher. 'Aber Sie haben doch mit jemandem geredet",
sagte sie. Wieder schüttelte ich nur den Kopf. "Verrückter
Mens!", murmelte Marja Vasiljevna und ging wieder in die Küche,
aber nicht, ohne sich auf dem Weg dorthin noch einige Male nach mir umzusehen.
"Das ist doch nicht möglich! Das ist doch einfach nicht möglich!"
wiederholte ich innerlich. Eine Phrase, die sich irgendwo in mir drin
ganz von selbst formulierte; und ich prägte sie mir solange ein,
bis sie sich in mein Bewußtsein gepflanzt hatte. "Aber ja,
das ist überhaupt nicht möglich!", sagte ich mir, stand
indes weiterhin da wie gelähmt. Hier ist irgend etwas Fürchterliches
geschehen... . Aber irgend etwas zu unternehmen hieße womöglich,
noch Schrecklicheres heraufzubeschwören. Ein Wirbel von Gedanken
erfaßte mich, und ich sah bloß noch die bösen Augen der
toten Alten, die langsam auf mich zu gekrochen kam. Hineinstürmen
und der Alten den Schädel zertrümmern. Das ist die einzige Möglichkeit!
Ich schaute mich suchend um und hatte Glück: In einer Ecke des Flurs
entdeckte ich einen Krockettschläger, der wieso auch immer bereits
seit Jahren dort gestanden haben mußte. Den Schläger greifen,
reinstürmen und drauf! Das Zittern hatte noch nicht nachgelassen.
Vor innerer Kälte stand ich mit eingezogenen Schultern da und rührte
mich nicht. Meine Gedanken galoppierten los, verhedderten sich, kehrten
wieder zum Ausgangspunkt zurück und galoppierten erneut los um andere
Sphären zu erschließen-, und ich versuchte die ganze Zeit sehr
konzentriert ihnen zu folgen. Und es war, als ob sie zwar auf meiner Seite
waren, jedoch keine Befehle von mir entgegennehmen wollten.
"Die Toten",
klärten mich meine eigenen Gedanken auf, "sind ein nichtsnutziges
Volk. Sie die RUHENDEN zu nennen war äußerst unbedacht, denn
sie sind viel eher UNRUHESTIFTER. Man muß auf sie achtgeben und
darf sie keine Minute aus den Augen lassen. Fragen Sie jeden beliebigen
Wächter der Totenkammer. Was glauben Sie, warum die dort hin berufen
wurden? Nur aus einem einzigen Grunde: Um darauf zu achten, daß
sie nicht auseinander kriechen. Denn solche spaßigen Zwischenfälle
ereignen sich häufiger als man denkt. Ein Toter bis zu diesem Zeitpunkt
noch als Wächter angestellt wusch sich einmal auf Befehl der Obrigkeit
im Baderaum, kroch aus der Totenkammer raus, dann in die Desinfektionskammer
hinein, und verschlang dort einen ganzen Wäschehaufen. Die Desinfektoren
haben den Toten zwar gehörig durchgewalkt, was jedoch die unbrauchbar
gewordene Wäsche anbelangte, so mußten sie den gesamten Schaden
aus eigener Tasche bezahlen. Ein anderer Toter ist mal in einen Kreißsaal
gekrochen und hat die werdenden Mütter derart erschreckt, daß
eine von ihnen sofort eine Fehlgeburt erlitt, der Tote aber stürzte
sich auf die noch warme Leibesfrucht und machte sich sogleich daran, sie
laut schmatzend hinunter zu würgen. Und als daraufhin eine beherzte
Krankenschwester dem Toten einen Schemel auf dem Rücken zerschmetterte,
biß er dieser Krankenschwester ins Bein, und sie starb kurz darauf
an den Folgen einer Leichengiftinfektion. Wie gesagt, die Toten sind ein
nichtsnutziges Volk, und man sollte sich vor ihnen in Acht nehmen!"
"Aufhören!", sagte ich zu meinen eigenen Gedanken, "Ihr
redet dummes Zeug. Tote können sich nicht bewegen!" "Na
schön", sagten meine eigenen Gedanken, "dann geh doch in
Deine Stube, wo sich die wie Du sagst -'unbewegliche' Tote befindet.
Ein ganz und gar unerwarteter
Eigensinn bemächtigte sich meiner. "Und ich werde doch gehen!",
sagte ich zu meinen eigenen Gedanken mit aller Entschlossenheit. "Versuchs
doch!", sagten meine eigenen Gedanken spöttisch. Dieser Spott
brachte mich nun endgültig in Rage. Ich packte den Krockettschläger
und stürzte zur Tür. "Warte!", brüllten meine
eigenen Gedanken, aber ich hatte bereits meinen Schlüssel hervorgeholt,
die Tür aufgeschlossen und weit aufgestoßen. Die Alte lag dicht
hinter der Türschwelle und hatte ihr Gesicht im Teppich vergraben.
Mit erhobenem Krockettschläger stand ich da zu allem bereit. Die
Alte rührte sich nicht. Der Schüttelfrost ließ nach und
auch meine Gedanken strömten wieder klar und deutlich durchs Gehirn.
Ich konnte ihnen wieder Befehle erteilen. "Zuallererst die Tür
schließen!", befahl ich mir selbst. Ich zog den Schlüssel
von der Außenseite der Tür ab und steckte ihn von innen wieder
ins Schloß. Das tat ich mit der linken Hand, während ich mit
der rechten den Krockettschläger festhielt und die Alte dabei keine
Sekunde aus den Augen ließ. Ich drehte den Schlüssel herum,
und nachdem ich vorsichtig über die Alte gestiegen war, ging ich
rasch in die Mitte der Stube. "So, jetzt rechnen wir beide ab.",
sagte ich. Ich hatte einen Plan ausgeheckt, mit dem gewöhnlich die
Morde in Kriminalromanen und entsprechenden Zeitungsartikeln begangen
wurden. Und zwar wollte ich die Alte einfach in einen Koffer sperren,
sie aus der Stadt bringen und in einem Sumpf versenken. Eine geeignete
Stelle wußte ich schon. Mein Koffer lag unter der Couch.
Ich zog ihn darunter
hervor und klappte ihn auf. Es waren alle möglichen Sachen darin:
Ein paar Bücher, ein alter Filzhut und zerlöcherte Wäsche.
All das legte ich auf die Schlafcouch. In diesem Moment schlug die Außentür
ins Schloß und es kam mir vor, als wäre die Alte aufgesprungen.
Ich fuhr augenblicklich hoch und griff nach dem Krockettschläger.
Die Alte liegt ruhig da. Ich bleibe stehen und lausche. Es ist der Lokführer,
der zurückgekommen ist. Ich höre wie er in seine Stube geht.
Da, jetzt geht er Über den Flur in die Küche. Marja Vasiljevna
wird ihm doch nicht von meinem absonderlichen Verhalten erzählen
das wäre gar nicht gut! So ein Teufelskram. Ich muß ebenfalls
in die Küche gehen, um sie durch mein Erscheinen ein bißchen
zu besänftigen. Noch einmal kletterte ich über die Alte, stellte
den Schläger unmittelbar neben die Tür, weil ich nicht wollte,
daß ich, nachdem ich wieder zurückgekommen war, beim Betreten
meiner Stube noch den Schläger bei mir hatte, und ging raus auf den
Flur. Aus der Küche drangen Stimmen zu mir vor, aber ich konnte nicht
verstehen was geredet wurde. Ich drückte die Tür meines Zimmers
geräuschlos zu und ging dann vorsichtig zur Küche: Ich mußte
unbedingt herausfinden, worüber Marja Vasiljevna mit dem Lokführeren
sprach. Den größten Teil des Flurs durchquerte ich sehr schnell,
aber kurz vor der Küche verlangsamte ich meinen Schritt. Offensichtlich
redete der Lokführer. Er erzählte über irgend etwas, das
ihm bei der Arbeit passiert war. Ich ging rein. Der Lokführer stand
mit einem Handtuch in den Händen da und redete, und Marja Vasiljevna
saß auf einem Hocker und hörte zu. Als der Lokführer mich
sah hielt er inne. "Seien Sie gegrüßt, Matvej Filipovitsch!",
sagte ich und ging weiter ins Badezimmer. Währenddessen schwiegen
die beiden. Marja Vasiljevna hatte sich wohl an meine Seltsamkeit gewöhnt,
und daher den letzten Vorfall wahrscheinlich längst vergessen.
Plötzlich beschlich
mich eine Ahnung: Ich hatte die Tür nicht abgeschlossen. Was, wenn
die Alte jetzt auf einmal aus meiner Stube heraus gekrochen käme?
Ich wollte zurückstürzen, besann mich jedoch im selben Augenblick
eines Besseren, und um meine Mitbewohner nicht zu erschrecken durchquerte
ich mit ganz ruhigen Schritten die Küche. Marja Vasiljevna trommelte
mit den Fingern auf dem Küchentisch herum und sagte zu dem Lokführeren:
"Ausgezeisnet! Das ist wirklis gesickt; is hätte das siserlis
auch stibitzt!" Mit stockendem Herzen ging ich raus auf den Flur.
Und kaum daß ich die Küchentür geschlossen, spurtete ich
auch schon zu meiner Stube. Von außen war alles ruhig. Ich trat
näher an die Tür und machte sie ganz behutsam ein kleines Stückchen
auf. Die Alte lag nach wie vor regungslos auf dem Fußboden das Gesicht
im Teppich vergraben. Der Krockettschläger stand wie gehabt an seinem
Platz neben der Tür. Ich nahm ihn, ging in die Stube und schloß
mich ein. Wahrhaftig, es roch unverkennbar nach Leiche in der Stube. ich
stieg über die Alte, ging zum Fenster und setzte mich in den Sessel.
Wenn mir davon nur nicht übel würde, solange ich so ermattet
war. Aber es war bereits ein unerträglicher Gestank. Ich steckte
mir eine Pfeife an. Ich fühlte mich schwach und mein Magen tat weh.
Aber was sitze ich hier eigentlich herum? Ich muß handeln und zwar
schnell, bevor die Alte endgültig verfault ist. Auf alle Fälle
muß ich sie aber ganz vorsichtig in den Koffer packen, sonst versucht
sie nachher auch noch, meinen Finger abzubeißen. Und dann an einer
Leichengiftinfektion sterben? Danke ergebenste "Aber ja doch natürlich!",
rief ich aus, "Jetzt würde es mich aber doch interessieren,
womit Sie mich denn eigentlich beißen wollen? Wo haben Sie denn
Ihre Beißerchen?!" Ich lehnte mich im Sessel nach vorne und
suchte die Fußleiste entlang der Fensterseite ab, wo meiner Berechnung
zufolge das künstliche Gebiß der Alten liegen mußte.
Aber das Gebiß war nicht da. Ich dachte nach: Sollte die tote Alte
womöglich bei mir in der Stube herum gekrochen sein und ihre Zähne
gesucht haben? Und womöglich hatte sie sie sogar gefunden und sich
wieder in den Mund gesetzt? Ich nahm den Krockettschläger und suchte
damit nochmals die Kante ab. Nein, das Gebiß war verschwunden. Daraufhin
holte ich ein dickes Laken aus der Kommode und ging zu der Alten. Den
Krockettschläger hielt ich für alle Fälle fest in der rechten
Hand und in der linken das Laken. Der Anblick der toten Alten rief in
mir eine seltsame Mischung aus Ekel und Angstgefühl hervor. Mit dem
Schläger hob ich ihren Kopf ein wenig an: Der Mund stand offen, die
Augen kullerten nach oben, und über der gesamten Kinnpartie, wo ich
sie mit dem Stiefel hingetreten hatte, war ein großer dunkler Fleck
aufgegangen. Ich schaute der Alten in den Mund. Nein, sie hatte ihr Gebiß
nicht gefunden. Ich zog den Schläger unter ihrem Kopf weg. Der Kopf
fiel runter und schlug auf dem Fußboden auf.
Als nächstes breitete ich das Bettlaken auf dem Boden aus und zog
es ganz dicht an die Alte heran. Dann kippte ich die Alte mit meiner Hand
und dem Krockettschläger über ihre linke Seite auf den Rücken.
Nun lag sie auf dem Laken. Die Beine der Alten waren in den Kniegelenken
angewinkelt und ihre Fäuste drückten gegen die Schultern. Die
Alte sah aus wie eine auf dem Rücken liegende Katze in Verteidigungsstellung,
die versucht, den Angriff eines Adlers abzuwehren. Nur schnell weg mit
diesem Kadaver. Ich wickelte die Alte in das dicke Laken ein und stellte
sie auf die Füße. Sie war leichter als ich vermutet hatte.
Ich ließ sie in den Koffer sinken und versuchte den Deckel zu schließen.
Hier hatte ich die eigentliche Schwierigkeit erwartet, aber der Deckel
ließ sich verhältnismäßig einfach zuklappen. Ich
ließ die Kofferschlösser einrasten und richtete mich auf.
Der Koffer steht vor
mir und erweckt einen derart harmlosen Eindruck, daß man glauben
möchte es lägen Wäsche und Bücher darin. Ich faßte
ihn am Henkel und probierte ihn anzuheben. Und wahrhaftig, es funktionierte
schwer selbstverständlich, aber nicht übermäßig,
und ich würde ihn ohne Probleme bis zur Straßenbahn tragen
können. Ich guckte auf die Uhr. Zwanzig nach fünf. Sehr gut.
Ich setzte mich in den Sessel um ein bißchen zu verschnaufen und
rauchte die Pfeife zuende. Offenbar waren die Sardelken, die ich heute
gegessen hatte nicht gerade besonders gut gewesen, denn meine Magenschmerzen
wurden immer schlimmer. Vielleicht aber auch deshalb, weil ich sie roh
gegessen hatte? Möglicherweise auch eine reine Nervensache. Ich sitze
da und rauche. Und so vergeht eine Minute nach der anderen. Die Frühlingssonne
scheint durchs Fenster und ich blinzele in ihre Strahlen. Da, jetzt versteckt
sie sich hinter dem Schornstein des gegenüberliegendes Hauses-, und
der Schatten des Schornsteins fällt vom Dach und legt sich über
die Straße bis auf mein Gesicht. Ich erinnere mich, wie ich gestern
um dieselbe Zeit hier saß und ein Povest geschrieben habe. Da ist
es ja: Das karierte Papier, auf dem es mit meiner feinen Handschrift niedergeschrieben
ist. "Der Wundertäter war von hohem Wuchs." Ich schaute
aus dem Fenster. Draußen ging ein Invalide mit einer Beinprothese
und verursachte ein lautes Klopfgeräusch mit seinem Bein und dem
Stock. Zwei Arbeiter und eine alte Frau, deren Hüfte die beiden umklammerten,
brachen in gröhlendes Gelächter aus, als sie den komischen Gang
des Invaliden bemerkten.
Ich erhob mich. Es wird Zeit! Höchste Zeit mich auf den Weg zu machen!
Höchste Zeit die Alte im Sumpf zu versenken!
Ich muß mir noch Geld von dem Lokführer leihen.
Ich betrat den Flur
und ging zu seiner Tür. "Matvej Filipovitsch, sind Sie zu Hause?",
fragte ich. "Ja, ich bin da.", antwortete der Lokführer.
"Dann entschuldigen Sie bitte, Matvej Filipovitsch, aber haben Sie
zufällig ein bißchen Geld im Haus? Ich kriege übermorgen
meinen Lohn, und ich wollte Sie fragen, ob Sie mir nicht eventuell dreißig
Rubel borgen könnten!?" "Kann ich machen.", sagte
der Lokführer; und ich hörte wie er mit seinen Schlüsseln
rasselte und irgendeine Kiste aufsperrte. Dann öffnete er die Tür
und reichte mir einen nagelneuen Dreißigrubelschein. "Vielen
Dank Matvej Filipovitsch!" sagte ich. "Keine Ursache!",
sagte der Lokführer.
Ich steckte das Geld
in meine Börse und ging zurück in mein Zimmer. Der Koffer stand
noch ganz friedlich an seinem Platz. "So nun aber los, und zwar auf
direktestem Wege!", sagte ich zu mir selbst. Ich nahm den Koffer
und verließ die Stube. Marja Vasiljevna sah mich mit dem Koffer
und rief: "Wohin fahren Sie?" "Zu meiner Tante", sagte
ich. "Bleiben Sie lange weg?", fragte Marja Vasiljevna. "Nein,
ich muß meiner Tante lediglich die ganze Wäsche hier bringen,
und werde wahrscheinlich noch heute wieder zurückfahren." Ich
ging raus. Auf dem Weg zur Straßenbahn trug ich den Koffer mal auf
der rechten und mal auf der linken Seite, und kam wohlbehalten dort an.
Ich stieg auf die vordere Plattform des Straßenbahnanhängers
auf und winkte der Schaffnerin zu sie möge herkommen und mir einen
Gepäckfahrschein ausstellen. Ich wollte meinen einzigen Dreißigrubelschein
nicht durch den ganzen Wagen reichen, und konnte mich auch nicht so recht
entschließen den Koffer stehen zu lassen um selbst zur Schaffnerin
zu gehen. Die Schaffnerin kam zu mir nach vorne auf die Plattform und
erklärte mir, daß sie kein Wechselgeld rausgeben könne.
Somit mußte ich an der ersten Haltestelle wieder aussteigen. Ich
wurde böse und wartete auf die nächste Straßenbahn. Ich
hatte Magenschmerzen und meine Beine zitterten leicht. Und dann erblickte
ich plötzlich mein liebenswürdiges Fräulein: Sie ging soeben
über die Straße, schaute jedoch nicht in meine Richtung.
Ich schnappte mir
den Koffer und stürzte hinter ihr her. Ich wußte ja nicht wie
sie heißt und konnte sie deshalb nicht bei ihrem Namen rufen. Der
Koffer stellte eine fürchterliche Behinderung dar. Ich umfasste ihn
mit beiden Armen und haute ihn mir auf diese Weise beim Laufen ständig
auf die Kniee und gegen den Bauch. Das liebenswürdige Fräulein
ging ganz schön schnell, und ich spürte, daß es mir nicht
gelingen würde sie einzuholen. Ich war in Schweiß gebadet und
setzte meine letzten Kräfte ein. Das liebenswürdige Fräulein
bog in eine Querstraße ein. Als ich die Ecke erreicht hatte war
sie verschwunden. "Verdammte Alte!", fluchte ich, den Koffer
auf die Erde knallend. Die Ärmel meiner Joppe waren völlig vom
Schweiß durchnäßt und klebten mir an den Armen. Ich setzte
mich auf den Koffer, nahm ein Taschentuch zur Hand und wischte mir damit
den Hals und das Gesicht ab. Zwei Jungen blieben vor mir stehen und guckten
mich an. Ich setzte ein ganz entspanntes Gesicht auf und schaute unverwandt
in den nächsten Torweg so als erwartete ich jemanden. Die beiden
Jungen tuschelten miteinander und zeigten mit ihren Fingern auf mich.
Eine wilde Wut stieg in mir hoch. Ach wenn ich ihnen doch nur den Starrkrampf
anhexen könnte! Und nur dieser widerlichen Bengel wegen stehe ich
jetzt allen Ernstes auf, wuchte den Koffer hoch, verdrücke mich damit
zum Torweg und sehe hinein. Ich mache ein verwundertes Gesicht, ziehe
die Uhr aus der Tasche und zucke mit den Schultern. Die beiden Jungen
sind mir gefolgt und beobachten mich. Ich zucke nochmals mit den Schultern
und schaue in den Torweg. "Komisch!", sage ich laut, nehme den
Koffer und schleppe ihn zur Straßenbahnhaltestelle.
Um fünf Minuten
vor sieben komme ich am Bahnhof an. Ich löse eine Rückfahrkarte
bis Licij Nos und steige in den Zug ein. Außer mir befinden sich
noch zwei andere Fahrgäste in dem Waggon: Einer ist augenscheinlich
ein Arbeiter, er war müde, hat sich die Schirmmütze über
die Augen gezogen und schläft. der andere ist noch ein junger Bursche,
er ist angezogen wie ein ländlicher Modenarr. Unter dem Jacket trägt
er ein rosafarbenes Kosovorotka, und unter der Schirmmütze ragt ein
lockiger Haarschopf hervor. Er raucht eine kleine Papyrosa mit einem hollgrünen
Plastikmundstück. Ich stelle den Koffer zwischen die Sitzbänke
und setze mich hin. Mein Magen tut so gemein weh, daß ich meine
Fäuste zusammenballe um nicht laut aufzustöhnen. Zwei Polizisten
führen irgendeinen Herrn ab. Er geht mit auf dem Rücken verschränkten
Armen und mit hängendem Kopf den Bahnsteig entlang. Der Zug setzt
sich in Bewegung. Ich werfe einen Blick auf die Uhr: Zehn Minuten nach
sieben. Oh was wird es mir für ein Vergnügen bereiten, die Alte
in den Sumpf gleiten zu lassen!. Schade nur, daß ich mir keinen
Stock mitgenommen habe, denn unter Umständen werde ich ein bißchen
nachhelfen müssen. Der Modegeck mit dem rosafarbenen Kosovorotka
mustert mich auf unverschämte Weise. Ich drehe ihm den Rücken
zu und gucke aus dem Fenster. In meinem Magen brauen sich fürchterliche
Krämpfe zusammen, daraufhin beiße ich die Zähne zusammen,
balle die Fäuste und spanne die Beinmuskeln an. Wir fahren an Lanskaja
vorbei und an Novaja Derovnja. Da vorne funkelt die goldene Spitze der
buddhistischen Pagode und dahinter erscheint das Meer. Aber auf einmal
ist mir das alles vollkommen egal; ich springe auf und renne mit winzigen
Trippeischritten zur Toilette. Eine wahnsinnige Wolle erfaßt mich
und raubt mir die Sinne... Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Wir erreichen
Lachta. Ich bleibe sitzen, und aus Angst, man könnte mich während
des Aufenthalts aus der Toilette jagen, mache ich nicht die leiseste Bewegung.
"Wenn er doch nur endlich weiterfahren würde! Bitte!"
Der Zug fährt
an, und vor lauter Wonne schließe ich die Augen. Oh diese Minuten
sind so süß wie der wunderbarste Augenblick einer Liebe! Meine
sämtlichen Muskeln sind aufs Äußerste angespannt, aber
ich bin mir darüber im Klaren, daß mich diese Anstrengung extrem
schwächen wird. Der Zug hält schon wieder an. Wir sind in Olgino.
Das bedeutet nochmal diese Qualen! Aber diesmal war es falscher Alarm.
Kalte Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn und eine sanfte
frische Brise flattert rings um mein Herz. Ich erhebe mich und lehne mich
mit dem Kopf einige Augenblicke gegen die Wand. Der Zug fährt, und
das Schaukeln des Waggons tut mir gut. Ich reiße mich fest zusammen
und verlasse leicht torkelnd die Toilette. Es ist niemand mehr im Waggon.
Der Arbeiter und der Modegeck mit dem rosafarbenen Kosovorotka sind offensichtlich
in Lachta oder in Olgino ausgestiegen. Ich gehe langsam zu meinem Fensterchen.
Und mit einem Male bleibe ich wie angewurzelt stehen und gucke mit stumpfem
Blick gerade vor mir auf den Boden. der Koffer ist nicht mehr da, wo ich
ihn hingestellt hatte. Vielleicht habe ich mich im Fenster geirrt. Ich
hechte zum nächsten Fensterchen. Kein Koffer. Ich hechte zurück,
wieder nach vorne, renne durch den ganzen Waggon, schaue auf beiden Seiten
unter sämtliche Sitze, aber der Koffer ist nirgends. Aber ja, das
ist ja überhaupt keine Frage! Während ich in der Toilette war
hat man mir natürlich den Koffer geklaut! Das hätte ich mir
ja denken können! Ich setze mich mit weit aufgerissenen Augen auf
die Sitzbank und erinnere mich aus irgendeinem Grunde daran, wie bei Sakerdon
Michajlovitsch wegen des glühenden Topfes mit einem Knall die Emaille
aufgeplatzt war. Was soll denn jetzt werden?, fragte ich mich selbst.
Wer wird mir denn jetzt noch glauben, daß ich die Alte nicht umgebracht
habe? Man wird mich noch heute verhaften, gleich hier, oder in der Stadt
auf dem Bahnhof, wie diesen Herrn, der beim Gehen seinen Kopf hängen
ließ. Ich gehe raus auf die Plattform. Der Zug fährt gerade
nach Licij Nos ein. Die weißen Säulen huschen vorbei, und eine
von Zäunen frankierte Landstraße. Der Zug hält an. Das
Trittbrett meines Waggons reicht nicht bis auf die Erde. Ich springe runter
und gehe zum Stationshäuschen. Um von hier bis in die Stadt zu gehen
braucht man noch eine halbe Stunde. Ich gehe in ein Wäldchen. Dort
drüben sind ein paar kleine Wacholderbeersträucher. Hinter ihnen
wird mich niemand sehen. Ich begebe mich dorthin. Auf der Erde kriecht
eine große grüne Raupe. ich kniee mich hin und berühre
sie mit dem Finger. Sie windet ihren kräftigen feingliedrigen Körper
einige Male nach der einen und nach der anderen Seite. Ich schaue mich
um. Niemand sieht mich. Ein leises Beben rieselt durch meinen Rücken.
Ich beuge den Kopf tief runter und sage leise: "Im Namen des Vaters,
des Sohnes und des Heiligen Geistes, heute und alle Tage bis an der Welt
Ende. Amen."19 Damit schließe ich mein Manuskript erst einmal
ab, da mir beim Lesen gerade auffällt, daß es auch so schon
hinreichend verwickelt ist.
Ende Mai und erste Junihälfte des Jahres 1939
***
ANMERKUNGEN
zu Daniil Charms (aus: Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden.
19. Aufl.. Bd. 4. 1987) Daniil Ivanovitsch, eigtl. D.1.Juwatschov, russ.
Lyriker, Dramatiker und Prosaist, geb. in Petersburg 12.1.1906, gest.
(in Haft) 2.2.1942; neben A.1.Wwedenskij der Hauptvertreter der 1927 gegr.
liter. Gruppe "Oberiu" (russ. "Ob-edinenie Real'nogo Iskusstva",
Vereinigung für reale Kunst), einer avantgardistischen Gruppe von
Dichtern und Künstlern, die bis 1930 bestand; 1931-32 in Haft. 1941
erneut verhaftet, verhungerte er im Gefängnis; 1956 rehabilitiert.
Charms experimentierte mit Lyrik und verfaßte kleine Dramen, reich
an Alogismen und Überraschungsmomenten in Handlungs- und Personenführung.
"Elizabeta Bam" (deutsch in: Daniil Charms: Fälle, 1970)
näherte sich dem absurden Theater. Mitte der 1930er Jahre zog sich
Charms mehr und mehr auf einfachere Stilistik und realistischere Thematik
zurück (auch Kinderbücher). Seine Miniaturen "Slutschai"
(dt. Fälle) sind minuziöse Beobachtungen des Alltags, in denen
sich das Groteske offenbart.
"Povest"; eine liter. Gattungsbezeichnung; irgendwo zwischen
"Erzählung" und "Novelle" einzuordnen. Da sich
die deutsch/russische Komparatistik über eine entsprechende Übersetzung
nicht einig ist, wählte ich den russ. Begriff.
"Sadovaja ulica" (Sadovijstraße), eine der größeren
Straßen Leningrads, die fast genau parallel zum Fontanka-Kanal verläuft,
und somit zwischen sich und der "Bolschaja Neva" (Große
Newa) den eigentl. Stadtkern Leningrads umschließt.
"zur besseren Bekömmlichkeit": Das russ. Verb "zakusit"'
läßt sich nicht mit einem entsprechenden deutschen Verb übersetzen,
da es lt. Daum/Schenk soviel wie "nachessen, damit vorher Gegessenes
oder Getrunkenes besser bekommt, oder um einen anderen Geschmack in den
Mund zu bekommen" bedeutet.
"ich gehe nach
Hause": Dieses Zuhause ist nicht nach heutigen, westeuropäischen
Maßstäben zu verstehen. Vielmehr handelt sich dabei um eine
Art Wohngemeinschaft, wobei dieser Begriff sicher nicht dem Geist jenes
Milieus entsprechen würde.
"Belye notschi"
(Weiße Nächte); /aus: Große Sowjetische Enzyklopädie.
Bd.3, 1971, S. 1 63/ Weiße Nächte kommen in jener Zeitperiode
vor, wo sich das Abendrot mit dem Morgenrot deckt und die ganze Nacht
hindurch die gewöhnliche Dämmerung (?) ('graschdanskie sumerki')
bestehen bleibt. Am deutlichsten ist dies um die Zeit der sommerlichen
Sonnenwende, an den Wendskreisen der nördl. und südl. Erdhalbkugel
zu beobachten, die entsprechend nach Norden gegen 59,5 nördl. Breite,
und nach Süden gegen 59,5 südl. Breite angeordnet sind. Die
Dauer der Weißen Nächte hängt vom geogr. Breitengrad des
jeweiligen Ortes ab. Z.B. dauert die Periode der Weißen Nächte
in Leningrad vom 11. Juni bis zum 2. Juli, in Petrozavodsk vom 27. Mai
bis zum 17. Juli und in Archangel'sk vom 13. Mai bis zum 30. Juli. Die
Definition des Begriffs Weiße Nächte" ist nur unter best.
Bedingungen anwendbar. / /.
"sardelki"
sind lt. Pavlovskij kleine dicke Würste. Da mir die deutsche Entsprechung
unbekannt ist, wählte ich hier und im folgenden der Einfachheit halber
die von mir eingedeutschte russische Bezeichnung "Sardelken".
"Michajlovskaja
ulica" (Michajlowskijstraße) ist auf meinem Merian-Stadtplan
nicht eingezeichnet. Ich vermute also, daß es sich um eine kleine
Seitenstraße handelt.
"Metschnikov"
(aus: DBG-Handlexikon; Deutsche Buch-Gemeinschaft Darmstadt; 1964, S.583)
ilja Metschnikov, russ. Bakteriologe, geb. 1845, gest. 1916; Arbeiten
über Immunität und Cholera. Nobelpreis 1908.
"Genie unserer
Zeit"; eine etwas ungebräuliche Formulierung, die ich deshalb
gewählt habe, weil sie möglicherweise in Anspielung auf Lermontovs
"Geroj naschego vremeni" (Ein Held unserer Zeit) verwendet wurde.
"Nevskij":
Der "Nevskij Prospekt" ist die erklärte Haupt- und Prachtstraße
Leningrads; führt vom Alexander Nevskij Platz, ost-süd-östlich
des Zentrums über die drei Kanäle bis mitten ins Zentrum auf
den Profsojusov Bouievard.
"Fontanka";
Kanal, der vom Newa-Delta, südl. der Insel Wassilevskij Ostrov, in
einem Bogen parallel außerhalb der Sadovijstraße verläuft,
um schließlich auf Höhe der Kirovskijbrücke wieder in
die Newa zu münden.
"Kwass",
säuerlicher, gewöhnungsbedürftiger Brottrunk; dem Bier
ähnliches Getränk aus wässrigem Malzbrei, Zucker und Weizenmehl,
mit geringem Alkoholgehalt. Kann man neben Wodka getrost als typisch russ.
Nationaigetränk bezeichnen.
zum Sprachfehler Marja Vasiljevnas: Im russ. Original macht sie aus stimmhaften
und stimmlosen 's'-Lauten jeweils entsprechend stimmhafte und -lose Zisch'-Laute.
Diesen Sprachfehler mit einer Art Lispeln wiederzugeben erscheint mir
insofern eine unglückliche Entsprechung zu sein, als sich dadurch
leider nicht der relativ warme und weiche Klangcharakter des russ. Sprachfehlers
einfangen läßt, der möglicherweise für die Figurenanalyse
von Bedeutung ist.
"Ruhende"
u. "Unruhestifter": hierbei handelt es sich eigentlich um eine
Art Wortspiel: "pokojniki" bedeutet "Tote",während
das von Charms frei substantivierte Adjektiv "bespokojnyj" (hier:
"bespokojniki") soviel wie "ruhelos" bedeutet. Es
müßte also "Tote" und "Ruhelose" heißen.
"Licij Nos":
Zu deutsch "Fuchsnase", ist der Name einer kleinen Eisenbahnstation,
die ca. 30 km nordwestlich von Leningrad, direkt am Finnischen Meerbusen
liegt.
"Kosovorotka";
It. Daum/Schenk ein russisches, folkloristisches Oberhemd mit Stehkragen
und seitlichem Verschluß.
"Papiroska";
Deminutiv zu "papirosa". Lt. Daum/Schenk eine Zigarette mit
hohlem Mundstück
"Im Namen des
Vaters...": Hierbei bin ich davon ausgegangen, daß sich Charms
auf Teile des "Missionsbefehls" (Mt.28,19-20) bezieht, wo die
entsprechende Passage vollständig heißt: "Darum gehet
hin und machet zu Jüngern alle Völker: taufet sie auf den Namen
des Vaters, des Sohnes und des heiligen /!/ Geistes und lehret sie halten
alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage
bis an der Welt Ende." Um auf die "Raupe" Bezug zu nehmen
sei hier noch auf die entsprechende Stelle im Markusevangelium hingewiesen:
(16,15) "Und er sprach zu ihnen: Gehet hin in alle Weit und predigt
das Evangelium aller Kreatur." Mit meiner eigenmächtigen Ergänzung
des "... heute und ..." wollte ich wiederum dem Charms-"Zitat"
gerecht werden.
(Verantwortlich für sämtliche Übersetzungen, Anmerkungen
und Zitate: Frank Jankowski)
***
Ich bin davon überzeugt,
daß man die Faszination dieser Geschichte nur dann erleben kann,
wenn man sich ihr vollkommen losgelöst von jeglicher intellektueller
Befangenheit hingibt - und somit Breton das Wort redet, der den Surrealismus
"ein für Male" so definierte:
"Surrealismus, Subst., männl. - reiner psychischer Automatismus,
durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise
den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat
ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen
oder ethischen Überlegung."
Aus dem Brief eines
Freundes,
den ich nicht zuletzt wegen seiner Ähnlichkeit zu Turgenevs 'Bazarov'
sehr schätze - Oder: Postskriptum, das man unbedingt lesen sollte:
(geschrieben 1989)
Gestern abend habe
ich diese Povest von Daniil Charms gelesen. Ich weiß nicht. Diese
Russen scheinen hauptsächlich darauf bedacht zu sein, möglichst
viel Hirnverbranntes in ihr ödes, graues Alltagsleben zu mischen,
damit es mystisch wird. Irgendwie sind diese ganzen, völlig abgedienten
Typen genauso blutleer, wie dieses komische Brot, das wir in Moskau geholt
haben. Wer nicht den Draht zum echten Abkacken hat, sollte zumindest so
einsichtig sein, nicht alle Leute damit zu belästigen. Hätte
Charms einen Aufsatz über die zentrale Funktion der Hypophyse im
GEO-Spezial veröffentlicht, hätte man ihn wenigstens für
intelligent halten, vielleicht sogar einige Sprachwendungen für interessant
halten können, und er hätte seinen Öffentlichkeitsdrang
ausgelebt. Ich gehe mal davon aus, daß ich zu dumm bin, das Stück
zu verstehen. Aber wovon handelt es eigentlich? Von einem Schriftsteller,
der keiner ist, weil er was kann, das er nicht umsetzen kann, also nichts
kann, aber könnte, wenn er nicht so realitätsfern wäre
und das weiß, aber nichts erlebt, und das, was er erlebt, in seine
reichhaltige Zitatensammlung einordnet, was er kann, was jedoch eigentlich
unerheblich ist, weil es letztlich doch aussagelos ist, was er wiederum
weiß, und auch, daß es anderen ebenso geht... Warum schreibt
er nicht von der Frau aus dem Brotladen? Ist das zu banal und nicht intellektuell
genug? Immerhin ja wohl das einzige, was wirklich passiert - außer,
daß er sich mit einem russischen Freak besäuft, den er siezt.
Was sind das für Probleme. Soll er doch abends Gymnastik machen oder
morgens kalt duschen. Dann schläft er besser - und ohne Blähungen.
Der Mann sollte Dostoevski Dostoevski und Gott Gott sein lassen und sich
seine Belesenheit für Partygespräche aufsparen - vielleicht
hätte er seine Brotladenfrau so rumgekriegt. Beide (Dostoevski und
Gott) werden ihm nicht helfen, seine fettigen Würstchen zu verdauen...
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