Kapitel 16

 

Papas Tochter

 

(1946-53)

 

 

An ihrem siebzehnten Geburtstag präsentierte Hilde Speer ihrem Vater eine peinliche Frage. In einem auf den 17. April 1953 datierten Brief hießt es

 

 

'Ich kann verstehen ... wie (es war, daß) viele Intellektuelle dazu kamen, (Hitler) zu akzeptieren, obwohl er in seinem Buch exakt angegeben hat, was für Ziele er hat. Was ich nicht verstehen kann ist, daß diese gebildeten Leute sich nicht gegen ihn stellten, als er anfing, die Juden zu verfolgen; und nachdem er die Grenzen von Deutschland erweitert hatte ... weiß ich, daß Du am Ende nicht mehr einer Meinung mit ihm warst. Aber was ich wirklich nicht verstehe ist, daß Du 1940 nicht mit ihm gebrochen hast.' (! ÜBERSETZT !)

 

 

Speers Reaktion am 14. Mai war von beachtlicher Länge - ein Zeichen dafür, daß er beides sehr ernst nahm, sowohl eine solche Frage aus einer solchen Quelle als auch die Notwendigkeit einer überzeugenden Stellungnahme, von der die zukünftige Beziehung zu seinem Kind abhängen würde. Die ungeheure Bedeutung, die Speer seiner Antwort beimaß, wird durch die Tatsache bekundet, daß er sie seinen beiden vorherigen Biographen, William Hamsher und Gitta Sereny, als gesondertes Thema präsentierte. Er wolle, schrieb er an Hilde, mit dem schwierigsten Teil beginnen: 'Es gibt ... keine Entschuldig! Es gibt nämlich Dinge, an denen man schuld ist, auch wenn man sich entschuldigen könnte.' (ZITIERT NACH SERENY, S.733) Mit seinen Mithäftlingen diskutiere er über diesen Punkt nicht (erstrecht nicht, seitdem Pastor Casalis weggegangen war); und um Selbstrechtfertigungen zu vermeiden, verzichte er auf den Ausdruck 'Schuld', schrieb er. Er habe Hitlers Befehle angenommen und müsse nun die Verantwortung für deren Konsequenzen tragen, doch 'von den scheußlichen Sachen habe ich nichts gewußt' (DITO) - eine Leugnung, die man in Nürnberg hingenommen hatte. Er hätte es herausfinden können; aber er habe es vorgezogen, sich keine Gedanken darüber zu machen. Nürnberg sei unvermeidbar gewesen und seine Strafe sei der Preis für die Erlösung.

 

 

Anschließend führte Speer eine ungewöhnliche 'Analogie' an, die selbst seiner Tochter zu hoch gewesen sein dürfte: Die Bestrafung des Ödipus für die Heirat seiner Mutter und Ermordung seines Vaters Laios, obwohl er in Unwissenheit deren beider Identität gehandelt habe. 'Vor jedem modernen Gericht wäre er freigesprochen (worden) (DITO; ERGÄNZUNG IN KL. VON ÜBERSETZER)' beteuerte Speer, die Moral der alten Griechen habe jedoch Bestrafung verlangt/gefordert und er fand, daß dies seine Richtigkeit habe, auch, wenn er nicht sagen könne warum. Eigentlich ist es sehr einfach, das zu erklären, egal ob auf antike oder moderne Weise: Ödipus, obgleich ihn seine Unwissenheit vor der Verurteilung wegen Vatermord und Inzest hätte schützen mögen, hatte sich ohne jede Frage des Mordes an einem Menschen schuldig gemacht: Schließlich tötete er einfach so einen vermeintlichen Fremden, dem er auf der Straße begegnet war. Speer verkennt den Kern/das Wesen der Legende sowie der daraus entstandenen Tragödie. Ein geblendeter Ödipus wurde für etwas verstoßen (wenngleich auch nicht exekutiert), was er tatsächlich verbrochen hatte. Und die Strafe wurde nicht von einem Gericht verhängt, sondern von Apollo, der ihn durch das Orakel von Delphi lange zuvor gewarnt hatte, daß er seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen werde (der Gott hatte auch Laios gewarnt, einen Sohn zu zeugen). Es stand Ödipus mehr oder weniger/im Prinzip frei, das Unglück zu vermeiden, indem er wenigstens keinen älteren Mann getötet und keine ältere Frau geheiratet hätte...

 

 

Die Moral scheint auf der Hand zu liegen: Für unsere eigenen Handlungen müssen wir auch die Konsequenzen tragen, seien sie nun angemessen oder nicht. Speer argumentiert, daß Ödipus wegen der mangelnden Kenntnis, wer seine Eltern waren/sind, Gnade verdient hätte; dies sei vergleichbar mit seiner eigenen Ahnungslosigkeit von den Greueltaten des Naziregimes, für die er ungerechtfertigterweise bestraft worden sei - 'ungerecht' nicht, weil irgendjemand für das, was tatsächlich geschah, zur Verantwortung gezogen werden mußte (anscheinend soll man seine Arbeit für das Regime mit jener läßlichen Sünde gleichsetzen, einen zufällig daherkommenden Fremden totzuschlagen).

 

 

Doch Speer fuhr fort, seiner Tochter gegenüber zu bekennen, er sei Hitler, der ihm seine Macht als Baumeister, Minister und Vertrauter verschafft habe, hörig gewesen. Und erst als Hitler sich mit seiner Verbrannte-Erde-Politik unmittelbar in seinen Zuständigkeitsbereich einmischte, habe er widerstrebend und verspätet gegen ihn opponiert.

 

'Ich habe gelernt zu begreifen, daß ungebremster Ehrgeiz jemandes angeborenes Gespür für ethische Prinzipien zerstören kann.' (! ÜBERSETZT !) FUßNOTE (1)

 

 

 

Die maßlose/unmäßige Länge des Briefes an Hilde, den sie anscheinand befriedigend fand (wenn man bedenkt, wieviele Jahre sie danach noch für ihren Vater schuftete), fällt in Hinblick auf seine Entstehungszeit umso bemerkenswerter aus. Speer beschäftigte seine beiden Postboten damals auf jeden Fall mehr denn je zuvor, denn am Donnerstag, den 8. Januar 1953 machte er sich ans Werk und entwarf den ersten Abschnitt seiner Memoiren. Die Übertragung von Marion Riesser umfaßt siebzehn einzeilig getippte A4-Blätter mit den schmalstmöglichen Seitenrändern; das ist etwa soviel Text, wie man ohne Illustrationen und Überschriften lesbar auf eine Zeitungsseite drucken kann. Das Original bestand aus fünfzehn Metern handbeschriebenen Toilettenpapiers. Speers Ausgangspunkt waren die letzten paar Wochen des Krieges (er legte mehr Wert auf Themen als auf Chronologie): Die 'Verbrannte Erde' und wie er sie unterminierte, seine oft verschobene Radioansprache sowie sein letzter Besuch bei Hitler. Eigens/Speziell an Wolters gerichtet notierte er hastig am Schluß:

 

 

'Ich lege keinen Wert darauf, es zu korrigieren. Ich bin recht zufrieden, wenn die richtige Vorlage in Deinen Händen ist. Ich lege überhaupt keinen Wert darauf, mich selbst oder die zeitlichen Umstände der Führerschaft, die sich selbst ruiniert hat, besser (aussehen) zu machen als sie waren. Das ist immer feinsäuberlich von dem achtbaren Heldentum der Soldaten, der Zivilbevölkerung zu unterscheiden. Der Gedanke an sie kann einen nur beschämen. Trotz dem, trotz all der 'Säuberungen' während der letzten Jahre, hätte ich mich mehr oder weniger ganz genauso verhalten (9x KURSIV) (Speers Hervorhebung) (ECKIGE KL.). Es gab keine Wahl. Wo Schlamm/Dung ist, macht man sich dreckig.' (! ÜBERSETZT ! - ANGEBL. HAT KOLF BZW. BAUDISCH ORIGINAL-ZITAT!)

 

 

Der ersten Schwarte seiner Memoiren folgte ein separates an Wolters gerichtetes Nachwort, welches das Datum des 9. Februar trägt, als die beispiellos umfangreiche Epistel das Gefängnis bereits verlassen hatte: 'Konnte es gestern Abend nicht beenden. Hoffe Du kannst es lesen ... Nicht zufrieden damit. Ich brauche mehr Zeit und Ruhe dafür. Ich muß immer ein Ohr gespitzt halten, was ablenkend ist.' (! ÜBERSETZT !) Sollte er weitermachen? Speer bat Wolters, die Kladde keinem Außenstehenden zu zeigen; nun verstand er, wie schwierig das Schreiben war.

 

 

Bis zum 7. März schmuggelte er zwei weitere ellenlange Abschnitte heraus, davon zeugt eine kurze Mitteilung an Wolters, wo Speer sich nach dessen Meinung erkundigt und ihn diesmal auffordert, er möge Gretel sowie ein oder zwei gute Freunde ebenfalls nach deren Meinung fragen. Rudolf Wolters vertrat längst die Ansicht, daß Speer mit Hitler allzu hart ins Gericht ging, behielt den größten Teil seiner Empörung/Zorn indes jahrelang für sich, um den Autor nicht zu entmutigen. Der Bereich der Erinnerungen (KURSIV) wurde gemäß ihrem privaten Code unter der Bezeichnung Arien (KURSIV) bekannt, während die Tagebuchaufzeichnungen Späne (KURSIV) hießen (was sowohl wörtlich als auch metaphorisch gemeint war, und wie die Spanischen Illustrierten (2x KURSIV), die nach wie vor an die Kinder geschickt wurden, natürlich auch eine Anspielung auf Spandau darstellte). Das Schreibpensum/die Produktion erreichte seinen/ihren Höhepunkt am 21. März mit einem Abschnitt, für dessen maschinenschriftliche Transkription Frau Riesser 41 Seiten benötigte. Am 9. Januar 1954, ein Jahr und ein Tag nachdem er begonnen hatte zu schreiben, beendete Speer das, was den Hauptentwurf seiner Memoiren vorstellte, die Grundlage jenes Buches, das später unter dem Titel Erinnerungen (KURSIV) (INSIDE THE THIRD REICH) erschien. Er hatte rund 1.100 Seiten Schreibpapier dafür gebraucht/verbraucht.

 

 

In seinen Tagebüchern schreibt Speer, schon seltsam genug, er habe dieses Mammutwerk Ende Dezember 1954 abgeschlossen, also gut ein Jahr später, als dies tatsächlich der Fall war. Wie auch immer, die Korrespondenz aus dem Wolters-Nachlaß liefert den entscheidenden Hinweis: Speer brauchte für seinen 'Spandauer Entwurf' ein Jahr und einen Tag. Es handelt sich dabei um eine ebenso ungewöhnliche wie verwickelte/komplizierte Verkehrung; ob es nun Heuchelei war oder ein Versehen/Ausrutscher, kann aufgrund des Archivmaterials nicht geklärt werden.

 

 

Zwischen seinen Schreibschüben fand Speer sogar noch Zeit, sich um Familienangelegenheiten zu kümmern. Im August 1953 bat er Wolters, ab dem 1. September für die Kinder eine Taschengeldregelung einzuführen. Demnach sollten die vier ältesten je zwölf Mark und die beiden jüngsten sechs Mark pro Woche erhalten. Desweiteren verfügte er, daß der Schulgeldfonds auch die Anschaffung eines Kontobuches, eines Quittungsblocks und sogar eines Lehrwerkes für Buchhaltung bezahlen solle, um sicherzustellen, daß man einen Überblick über die Gelder behalte. Ein Jahr später konnten weitere fünfzig Mark monatlich aus dem Fonds locker gemacht werden, dabei gingen jeweils zehn Mark an die vier Ältesten, sieben an Arnold und nur drei an Ernst.

 

 

Der mißglückte/fehlgeschlagene Versuch Alberts, des Ältesten, im März 1955 das Abitur zu machen, verleitete den grundlos beunruhigten Speer zur unglaublich hanebüchenen 'Abrichtung' seiner Kinder durch Geld. Alberts Enttäuschung im Alter von zwanzig Jahren stellte ein echtes Hemmnis dar, denn eine derart wichtige Prüfung zu wiederholen, war für junge Leute, die im Begriff waren, die Schule zu beenden, keine leichte Sache. Nichtsdestotrotz war es weder ein Desaster noch ein Zeichen von Unvollkommenheit: Den jungen Mann hatte mitten in den schweren Prüfungen schlicht und ergreifend eine Grippe ereilt. Albert hatte nach dem Krieg eine Lehre als Zimmermann absolviert und eine Abendschule besucht, um den versäumten Stoff aufzuholen. Sein Vater beriet sich mit Wolters und schickte den Jungen nach Bayern, wo er die Prüfungen noch im selben Jahr wiederholte und ein anständiges Abitur hinlegte. Nach dem Studium der Architektur wurde Albert ein höchst erfolgreicher Stadtplaner in Frankfurt am Main, wo er in den 90er Jahren zusammen mit seiner Frau, einer Fernseh-Ansagerin lebte.

 

 

Das schulische Straucheln des ältesten Sohnes veranlaßte den Vater im April 1955, ein gestaffeltes Belohnungssystem für alle anderen Kinder einzuführen. Von nun an sollte jedes Kind achtzig Mark für eine eins und vier Mark für eine vier (als unterste 'Bestanden'-Note) erhalten; diese Tarife sollten bei Abiturnoten verdoppelt werden. Nach eingehender Überlegung halbierte Speer die Zahlungen gegen Ende April, da der Schulfonds diesen zusätzlichen Ansprüchen nicht gewachsen war. In dem Brief an Wolters, der diese Verminderung ankündigt, sinnierte Speer:

 

 

'Es ist ein wahres Kreuz, daß ich nicht mit den Kindern leben kann. Es ist erstaunlich, daß sie mir verbunden sind, trotz der zehn Jahre (im Gefängsnis) und obwohl sie während der drei Jahre (als) Minister nichts von mir hatten.' (! ÜBERSETZT ! - ANGEBL. HAT KOLF BZW. BAUDISCH ORIGINAL-ZITAT!)

 

 

Weniger als zwei Monate später erzählte er Wolters jedoch von seiner Sorge, den Kontakt zu seinen Kindern zu verlieren. Hilde war beinahe erwachsen und Arnold fand bei seinen seltenen Besuchen mehr Interesse am Dekors des Gefängnisses als an seinem Vater. Aber die Familie ging zusammen durch dick und dünn und hielt ihren Kontakt aufrecht - ungefähr alle drei Monate einmal: Hilde kam im September 1953 in Begleitung von Albert, um persönlich von ihren Amerika-Abenteuern zu berichten; Ernst, der jüngste und für seinen Vater stets der 'Schwierigste', damals gerade zehn, besuchte Spandau erstmals am 2. Februar 1954. Es war der erste einer Reihe von bedrückenden Begegnungen mit dem introvertierten Jungen, den Speer seit dessen Säuglingsalter nicht mehr gesehen hatte. Margret, die jüngere Tochter, stattete ihrem Vater den ersten Besuch, der sehr erfreulich war, am 2. Mai ab.

 

 

Eine Berliner Vier-Mächte-Konferenz zum Thema Spandau, im März, führte zu einigen Verbesserungen der Haftbedingungen, erzielte allerdings keine Fortschritte in puncto Remission: Ab Mai 1954 wurde den Häftlingen das Lesen von Zeitungen gestattet; zensiert wurden dabei lediglich die Spandau betreffenden Inhalte. Speers Interesse an Architektur war soweit wiedererwacht, daß er sich entsprechende Fachzeitschriften besorgen ließ; jenen Verleger hätte es zweifellos verdrossen, zu erfahren, daß man Speer im Zuge der gelockerten Gefängnisordnung das 1953er Exemplar des Baumeisters (KURSIV) geliehen hatte.

 

 

Im September breitete sich im Gefängnis das Siechtum aus. Hessgb61

 

war es nie richtig gut gegangen, zumindest nicht mental; mit Raeder ging es langsam zuende. Zu Beginn des Monats wurde dann Neurath, ebenfalls schon schwach auf den Beinen, ziemlich schwer herzkrank; und Funk, der Diabetiker, war der erste Häftling der das Gefängnis verließ, weil er wegen einer Blasenoperation Mitte des Monats in das nahegelegene englische Militärkrankenhaus gebracht werden mußte. (Neurath wurde auf Grund seines schlechten Gesundheitszustandes am 6. November vorzeitig entlassen; er starb knapp zwei Jahre später, im August 1956.) Am Ende dieses Monats September ereignete sich dann eine kleine Sensation: Als nämlich eine französische Zeitschrift Fotos veröffentlichte, die das 'Innere von Spandau' abbildeten/zeigten. Ein französischer Wachmann wurde gefeuert und als Vorsichtsmaßnahme stellten die illegalen Postboten ihre schwarzen Kurierdienste vorübergehend ein.

 

 

Am letzten Tag des Monats schrieb der obsessive Speer, der alles auflistete, was er 'gelesen' hatte, in sein Tagebuch, er sei um den Gefängnisgarten gegangen, was er seiner Gesundheit zuliebe so oft getan hatte, und zwar auf eine Art und Weise, ähnlich der eines Kindes, das seine ersten Schritte unternimmt. Nachdem er ausgemessen hatte, daß die Länge seiner Schuhe 31 Zentimeter betrug, ging er den Hauptweg des Gartens ab, indem er eine ganze Runde lang einen Fuß immer genau vor den anderen setzte, und kam zu dem Ergebnis, daß der Rundweg 270 Meter lang war. Bewaffnet mit diesen seinen Zollstöcken beschloß er um den 20. September herum, in seinem Geiste einen Spaziergang von Berlin nach Heidelberg zu unternehmen - eine Entfernung von 626 Kilometern. In einer Tabelle protokollierte er, wieviel er täglich, wöchentlich und durchschnittlich zurücklegte. Und ausgerechnet der verwirrte Hess, der die Angewohnheit hatte, im Garten zu sitzen, kam auf die praktische/nützliche Idee, wie man die Runden am besten zählte: Er pflückte aus dem Garten dreißig Bohnen (BEI SERENY: ERBSEN, VGL S. 741) und sagte zu Speer, er solle sie in der linken Hosentasche aufbewahren und nach jeder Runde eine davon in die rechte stecken.

 

 

Um sich von der auf Mitgefühl basierenden seelischen Aufwühlung nach Neuraths Entlassung wieder zu beruhigen, schlug Speer über die Stränge, indem er mehr als vierundzwanzig Kilometer pro Tag marschierte. Zwei Tage später schwoll sein rechtes Knie an, wie es zuletzt vor fünf Jahren mit dem linken geschehen war. Es gab sicherlich eine orthopädische Erklärung für diese Erscheinung. Da Speer jedoch zwei Monate lang jeden Tag eine sehr beachtliche Strecke zurückgelegt hatte und mittlerweile eigentlich hätte daran gewöhnt sein müssen, existierte vermutlich auch eine psychosomatische Komponente. Neurath war immerhin sein vertrautester Mitgefangener gewesen, und Speer, obschon beinahe ein solcher Einzelgänger wie Hess, spürte nun doch einen Anflug von Einsamkeit. Jetzt waren sie nur noch zu sechst.

 

 

Man verordnete Speer wegen seines Knies Bettruhe. Gegen die Schmerzen wurde ihm alle drei Stunden eine Aspirin verabreicht. Nach einem Monat fing er an, Blut zu spucken und unter Brustschmerzen zu leiden. Mitte Dezember steckte Speer mitten in der nächsten Lungenkrise, vergleichbar mit der zum Jahreswechsel 1943/44. Der Militärarzt beharrte zunächst einmal auf seiner Bronchitis-Diagnose, doch kurz darauf wurde Speer mit einem durch ein Blutgerinnsel verursachten Lungenkollaps (Lungeninfarkt) in das Krankenzimmer, jene vormalige Hinrichtungskammer, verlegt. Elf Wochen lang mußte er auf dem Bauch liegen. Am 22. Dezember erhielt Speer Besuch von seiner Frau. Sie brachte ihm die Tonbandaufnahme einer J. S. Bach-Komposition mit, die drei seiner Kinder gemeinsam für ihn gespielt hatten (Hilde an der Flöte, Albert am Cello und Margret am Klavier). (FÜR BESSERE FORMULIERUNG DANKBAR!!!!)

 

 

Nachdem Speer im Mai vorgeschlagen hatte, seinen beiden Mädchen aus dem Schulgeldfonds einen Hund zu kaufen, und dieser im Oktober angeschafft worden war (wie immer hatte sich Wolters darum gekümmert), fügte er den Weihnachtsgeschenken, die aus derselben Quelle finanziert worden waren, noch ein Würstchen für den Hund hinzu - einen Dackel, der schlicht Speer hieß (den Namen hatte sich Speer ausgedacht). Dieses Würstchen ließ er dann in Heidelberg an den Weihnachtsbaum hängen (wie es auch sein eigener Vater getan hatte - Anm. d. Übersetzers). Dies bereitete den Kindern einen Heidenspaß; selbst der griesgrämige Ernst fand die Idee ziemlich drollig. Er hatte den größten Anteil aus dem väterlichen Geschenkebudget eingeheimst, nämlich fünfzig Mark für ein Fahrrad, während die fünf Geschwister jeweils dreißig Mark erhielten (Arnold bekam für ein Zeugnis ohne Fünfen und Sechsen allerdings noch einen Bonus von Dreißig Mark). 'Zum ersten Mal hatte ich in den Verlauf des Heiligen Abends eingegriffen. Eine Art von Dabeisein.' (ZITIERT NACH Tagebuch, S. 407) teilte ein zufriedener Speer im gerade anbrechenden Neuen Jahr seinem Tagebuch mit, nachdem er ihren netten Dankesbrief gelesen hatte. Zum Heiligabend-Gottesdienst in der Kapelle mußte er jedoch - auf einem Krankenbett liegend - geschoben werden. Erst Ende der ersten Januarwoche 1955 kam er wieder zurück in seine Zelle, wo er sich aber immer noch sehr schwach fühlte. Speer war durch diese frühzeitige Rückkehr so massiv und auf so untypische Weise bedrückt, daß man ihm Sedativa verschrieb und Vorsichtsmaßnahmen gegen Selbstmordversuche ergriff: Seine Tabletten wurden ihm nur noch in Einzelportionen zugeteilt, und ein Wärter hatte darauf zu achten, daß er sie auch wirklich hinunterschluckte.

 

 

Zu dieser Zeit kam Margret finanziell gut genug alleine über die Runden, so daß sie in der Lage war, seit dem 1. Januar 1955 auf die monatlichen Zahlungen des Schulgeldfonds zu verzichten - so jedenfalls hatte es ihr Mann in einem Brief an Wolters verfügt. Der Fonds, so ordnete Speer an, solle bestimmten Zwecken vorbehalten sein, zum Beispiel dem Fahrgeld für die Besuche seiner Familie, dem Taschengeld, den Sommerferien und Weihnachtsgeschenken der Kinder, Annemarie Kempfs Ausgaben sowie den Zahlungen an Proost. Speer legte Gretel indirekt nahe, den Aktienanteil an der florierenden Dortmunder Unionsbrauerei, den er von seinen Eltern geerbt hatte, nicht zu verkaufen, sondern lieber das Bauland rings um ihr Heidelberger Haus abzustoßen, um den Besitz halten zu können, ohne daß er zur finanziellen Belastung wurde.

 

 

Speer fühlte sich vollkommen genesen und erfreute sich zu seinem fünfzigsten Geburtstag am 19. März 1955 bester Laune. Der unermüdliche Wolters hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, den besonderen Anlaß gebührend zu würdigen. Er wandte sich an zahlreiche frühere Kollegen und Verbündete Speers und bat sie um Glückwunschbotschaften, die er dann sammelte und in einem geheimen Bündel am 15ten nach Spandau befördern ließ, damit sie ihm rechtzeitig zugestellt wurden. Unabhängig voneinander mußten Wolters und Speer daran denken, daß Hitler ihm zu seinem vierzigsten Geburtstag vor zehn Jahren jenes Verbrannte-Erde-Dekret 'geschenkt' hatte. Diesmal, eine Dekade später, beendete Speer genau an seinem Geburtstag die Wanderung 'von Berlin nach Heidelberg' innerhalb der Gefängnismauern. Von seinem Gartenstuhl aus ermunterte Hess ihn, Richtung Südosten nach München weiterzugehen, und dann noch weiter. Dies war wahrscheinlich der Keim jener Idee, seine Wanderung 'rund um die Welt' auszudehnen - der beständigste und effektivste Fluchtweg aus der Realität, den Speer im Laufe seines langen Gefängsnisaufenthalts ausfindig machte; er sollte ihm helfen, die Zeit mit bemerkenswert geringem seelischen Schaden zu überstehen. Er entwarf ein akribisches und detailliertes Programm, nach welchem er dann Landkarten las und sich darauf bezog. Zuvor lieh er sich jeweils Bücher aus, um auf jeden Abschnitt seiner 'Route' sowie die dazugehörigen Orte gründlich vorbereitet zu sein, und schickte oftmals einen begeisterten Wolters los, damit dieser irgendwo Informationen über die ausgefallensten Ecken der Welt auftreibe.

 

 

Sobald er sich von der doppelten Knie-Lungen-Erkrankung erholt hatte, fing er an, sich Sorgen um seine Hauptverbindung zur Außenwelt zu machen, sprich um Toni Proost, genauer gesagt um dessen kleine Sohn Bernd. Anfang Januar schrieb Speer an Wolters, daß der Kleine an Leukämie erkrankt sei und bat ihn, falls es der Schulfonds erlaube, um eine Sonderzahlung von 200 Mark an/für Proost. Der März brachte noch keine Anzeichen von Verbesserung bei dem Knaben; einen Monat darauf schrieb Irmgard Proost an Wolters, den Jungen habe eine Gelbsucht niedergestreckt. Im Juni brauchte er zehn Transfusionen. Das ganze frische Blut konnte eine Racheninfektion nicht verhindern, da Bernds Immunsystem zusammengebrochen war. Anfang August wurden Milz, Nieren und Leber in Mitleidenschaft gezogen und der Junge starb. Speer bediente sich des Schulfonds, um den trauernden Eltern rote Rosen und einen Strauß Vergißmeinnicht schicken und Geld für den Grabstein überreichen zu können. Etwa einen Monat später, am 10. September, brachte Irmgard ein gesundes Mädchen, Christiane, zur Welt. Und eine Woche nachdem dieses schöne Ereignis den Spandauer Personalunterkünften einen neuen Bewohner geschenkt hatte, wurde einer der alteingesessenen Bewohner des Zellenblocks, Erich Raeder, auf Grund seines schlechten Gesundheitszustandes am 17. September entlassen. (Der nie wieder richtig auf die Beine gekommene Naziadmiral verfaßte zwei Bände reueloser Memoiren und starb im Jahre 1960.) Nun waren sie zu fünft.

 

 

Bundeskanzler Adenauers historischer erster Moskaubesuch am Ende des Monats bewirkte die Freilassung Tausender deutscher Kriegsgefangener, aber eine Einigung über die Spandauer Fünf wurde nicht erzielt. Ein optimistischer Brief von General Speidel, geschrieben wenige Wochen später, weckte abermals Speers Hoffnung, und abermals vergeblich. Im November 1955 wurden die Besuchszeiten verdoppelt. Dies führte jedoch lediglich dazu, daß ein Zusammentreffen mit Fritz, dem vielleicht begabtesten der Kinder, einem erstklassigen Mathematiker, umso deprimierender ausfiel; soweit Speer betroffen war, handelte es sich bei ihm ebenfalls um einen 'schwierigen' Jungen. Der Besuch von Margret und Ernst, einen Monat darauf, verlief beinahe genauso schlimm/unangenehm.

 

 

Eine Krankheit andere Natur stellte sich 1955 ein, als Frau Kempf das widerfuhr, was man seinerzeit gemeinhin als Nervenzusammenbruch bezeichnete. Marion Riesser bemerkte durch den Ton/Stil (TONE) der Briefe, daß irgendetwas mit ihrer Freundin Annemarie nicht mehr stimmte, woraufhin Wolters ihr einen Urlaub in Coesfeld anbot, den sie ablehnte; auch retournierte sie einen Scheck über 500 Mark, den Wolters ihr auf Speers Anregung hin für einen Skiurlaub hatte zukommen lassen. Sie hatte zu hart gearbeitet - zum einen die unbezahlte und belastende Tätigkeit als Verwalterin und Koordinatorin der Speer-Korrespondenzen, zum anderen die Ganztagsbeschäftigung als Abgeordneten-Sekretärin, und das alles, ohne auszuruhen. Es ist aber auch gut möglich, daß sie es einfach satt hatte, ständig bevormundet zu werden und immer wie selbstverständlich für alle da zu sein; auf jeden Fall veränderte sie jetzt ihr Leben, indem sie zwar weiterhin für den Bundestagsabgeordneten arbeitete, nunmehr aber in dessen Wahlkreis, schön weit von Bonn entfernt. Aus dem Netzwerk Speers klinkte sie sich tatsächlich rund sechs Jahre lang aus, ohne jedoch gänzlich den Kontakt zu verlieren. Dies bedeutete zwar einiges an Mehrarbeit für Wolters und Riesser, doch sie kamen damit zurecht.

 

 

Wie dem auch sei, Speer machte 1956 eine Phase milder aber chronischer Depressionen durch, ein klassischer Fall von 'Gefängnisfieber', welches unter Langzeithäftlingen ein weitverbreitetes Leiden darstellt. Über Wochen hinweg vernachlässigte er sein Tagebuch und gönnte sich lange Pausen von seiner Wanderschaft 'rund um die Welt'. Immerhin setzte er seine geistig neutrale Gartenarbeit weiterhin fort. Funks erneute Krankheit sowie die Nachricht von Neuraths Tod im August 1956 machten es nicht besser.

 

 

Rudolf Wolters sah sich zu Beginn dieses Jahres veranlaßt, Speer eine Rüge zu erteilen, weil dieser etwas versäumt hatte, was in ihrem Code zu einem 'astrologischen Termin' (APPOINTMENT) beziehungsweise später dann einfach zu einem 'Astrologischen' stilisiert worden war - der allmonatlich vorbereitete Austausch, in welchem Wolters ihm einen Sammelbrief mit Fragen zuschickte, die sich bei verschiedenen Kontakten ergeben hatten und Speers Aufmerksamkeit erforderten. Im Gegenzug schickte Speer eine Sammelantwort zu mehreren früheren Fragen zurück. In jenem langen Brief nun schnitt Wolters ein Thema an, das für ihre außergewöhnliche Freundschaft von viel ernsterer Tragweite war. In Zusammenhang mit Speers jüngstem Gnadengesuch hatte Wolters über den 'Spandauer Entwurf' sowie über Speers Reflexionen in den Tagebüchern nachgegrübelt; und er hatte sich erlaubt, Zweifel daran anzumelden, daß sein Brieffreund bereit sei, die 'Verantwortung' für die Exzesse des Naziregimes auf sich zu nehmen. Wie wir aus seiner oben beschriebenen politischen Haltung schließen können, bestand Wolters' Hauptabneigung gegen diese Taktik in seinem Glauben, daß es nichts gab, wofür Speer sich hätte entschuldigen müssen; am 13. Januar jedoch stellte er einlenkend fest, daß, wenn jemand Verantwortung für etwas übernehme, es so aussehe, als bekenne er sich schuldig. Es kam Speer außerordentlich entgegen, wenn man ihn beim Wort nahm: 'Man sollte hier vorsichtig sein und so wenig wie möglich "zugeben" ... Ich hoffe Du gibst das auf.' (! ÜBERSETZT !)

 

 

Kempf und Riesser wußten beide, wie empfindlich Wolters in diesem Punkt war. Doch um Speer nicht zu nahe zu treten, unterdrückte er dieses Gefühl die ganze Zeit sehr pflichtbewußt. Es handelte sich dabei um eine fundamentale Meinungsverschiedenheit, gleichsam um den Keim, der fünfzehn Jahre später zum Bruch ihrer Freundschaft führen sollte; aber Wolters ließ es nie zu, daß dieser wunde Punkt / dieses gärende Problem seine Ergebenheit zur Familie Speer beeinträchtigte - häufig genug zu seinem eigenen Schaden. Den Kindern gegenüber verhielt er sich wie ein großzügiger Onkel nebst Vaterersatz, und lud sie alle das eine oder andere Mal nach Coesfeld ein; auch Gretel wurde eine Freundin der Familie Wolters und duzte sich mit seiner Frau Erika. In demselben brieflichen Warnschuß brachte Wolters auch das Interesse von Speers Tochter Margret an der Innenarchitektur zur Sprache und informierte ihn, daß er sich ausgiebig mit diesem Beruf befaßt und herausgefunden habe, daß er für Frauen so gut wie aussichtslos sei; desweiteren bot er Albert Junior, wie sein Vater mittlerweile Student in München, einen Ferienjob und sogar ein Bett in seinem Düsseldorfer Büro an, damit dieser ein wenig Praxis als Architekt erlange. FUßNOTE (2)

 

 

Wie nah sich die beiden Männer - Häftling und Geheimagent - zu jener Zeit tatsächlich waren, bezeugt ihr Versuch, in der unmittelbar auf die Silvesternacht folgenden Nacht genau um zwölf Uhr telepathischen 'Kontakt' miteinander aufzunehmen. Allein, jeder mußte dem anderen gegenüber linkisch zugeben, daß er vor Mitternacht eingeschlafen war (Speer hatte sich in seiner Zelle mit Sekt getröstet; Wolters, ein Liebhaber guten Essens und Trinkens, hatte zuviel Weißwein getrunken).

 

 

 

Als wolle er seine Trägheit abschütteln und soetwas wie einen Neuanfang versuchen/probieren, setzte es sich Speer im Spätsommer 1956 in den Kopf, die Arbeit an seiner Dissertation wieder aufzunehmen, die er nach seinem Diplom vor fast dreißig Jahren gar nicht richtig begonnen, sondern es vorgezogen hatte, Tessenovs Assistent zu werden und Margret zu heiraten. Außerdem fing er wieder an, zu zeichnen, was nie seine große Leidenschaft gewesen war, sondern ein wiederentdeckter Gefallen an den Spanischen Illustrierten (2x KURSIV) für die Kinder, und jetzt eine etwas ernsthaftere Nebenbeschäftigung (AVOCATION??). Speer entwickelte eine so starke Begeisterung, daß er sich einen Tadel einhandelte, weil er die Nachtruhe mißachtete. Als Speer sich wieder seiner 'Geschichte der Fenster' widmete, gesellte sich Fenster (KURSIV) zu den schwachen Codenamen hinzu, die zwischen Spandau und Berlin zirkulierten. In den vergangenen zehn Jahren hatte er zwar hin und wieder etwas zu diesem Thema gelesen, warf sich nun aber wieder - ganz nach der alten obsessiven Speer-Manier - so richtig für die Fenster ins Zeug. Da die Depressionsphase abgeklungen war, funktionierte Speers Gedächtnis wieder hervorragend. So vergaß er auch Margrets bevorstehenden fünfzigsten Geburtstag nicht, zu dessen Anlaß er den Schulfonds anwies, Geld für ein Paar goldener Ohrringe locker zu machen (wieder einmal erledigte Wolters die Arbeit, indem er einer von Speer ausgesuchten Goldschmiedin, Gerdy Troost, Witwe des Mannes, dessen Nachfolge er als Hitlers Architekt angetreten hatte, 365 Mark bezahlte). Ein erfolgreicher nachträglicher Geburtstagsbesuch seiner Frau in Begleitung von Ernst hatte eine weitere Verbesserung seiner Stimmung zur Folge, ebenso wie ein Besuch seiner Tochter Margret, die in die Fußstapfen ihrer älteren Schwester Hilde treten und für ein Jahr nach Amerika gehen wollte.

 

 

Am 2. September wurde Speer formell davon in Kenntnis gesetzt, daß sein Fall nun, nach einer sechsjährigen Wartezeit, vor das Berliner Entnazifizierungstribunal kommen werde. Die Mitteilung trug das Datum des 18. August und die Anhörungen, bei denen Dr. Flächsner Speer abermals vertrat, dauerten über das Jahr hinaus in halbherziger Manier an. Speer klammerte sich zu dieser Zeit an den nächsten Spandauer Meilenstein - die Entlassung von Dönitz, um Mitternacht des 30. September, zehn Jahre nach jenem Tag, da sie in Nürnberg verurteilt worden waren. Er war der erste Häftling, der seine Zeit abgesessen hatte. Ihr Verhältnis blieb bis zuletzt unterkühlt - ein knapper Höflichkeitsaustausch als die Gefangenen sich um zehn Uhr abends wie gewöhnlich in ihre Zellen begaben. Dann, ab Mitternacht, waren sie nur noch zu viert.

 

 

In einem erfolglosen Versöhnungsangebot eines Briefes an Annemarie Kempf, im Sommer 1956, zeigte Wolters sich über die Entnazifizierungsverfahren beunruhigt, die häufig Gegenstand ihrer Briefwechsel gewesen waren:

 

 

'Ich habe nur Angst wegen der Sache mit den Säuberungen von Judenwohnungen in Berlin. Das wäre ein Schuß ins Schwarze (gegen Speer) (ECKIGE KLAMMERN). Und dies ist der Punkt, auf den die Verteidigung von sich aus hinweisen sollte, denn er wird noch zur Sprache kommen...' (! ÜBERSETZT !)

 

 

Sperr hoffe, schrieb Wolters, daß der Fall keine Aufmerksamkeit erregen werde und er habe sich damit abgefunden, sein Haus am Berliner Schlachtensee aufgeben zu müssen, den Hauptanteil seines übriggebliebenen Vermögens, nachdem Werner Schütz sein beachtliches Erbe von der Mutter legal an die Kinder verteilt hatte. FUßNOTE (3). Flächsner gab ihm sogar den taktlosen Rat, noch längere Zeit zu spielen als bereits hätte verstreichen dürfen, und Speer hatte den Eindruck, sein Anwalt gehe davon aus, daß er noch eine ganze Menge Zeit auf Lager habe. Aber selbst ein solch verdrießlicher Anlaß verschaffte ihm ein bißchen emotional anspruchslose Gesellschaft und Konversation, für die er dankbar war. In seinem Tagebuch zum Dezember 1956 merkte Speer zu dieser Konsultation an: 'Ich hätte auch noch stundenlang weitersprechen können. Ich muß nur ein Thema haben.' Er fügte die akkurate Selbstwahrnehmung hinzu: 'Und mein einziges Thema ist meine Vergangenheit.' (ZITIERT NACH TAGEBUCH)

 

 

Die Tagebücher gerieten in den ersten Monaten des Jahres 1957 wieder sehr skizzenhaft. Eines seiner Hauptthemen war damals der rapide Verfall des Ex-Wirtschaftsministers Walter Funk, der seine Diabetes in der Hoffnung auf Erlassung der lebenslangen Freiheitsstrafe vorsätzlich verschlimmerte, indem er sich heimlich mit Zucker vollstopfte. Am 17. März 1957 wurde ihm sein Wunsch erfüllt; er ging heim nach Düsseldorf und starb dort drei Jahre später. Jetzt waren sie nur noch zu dritt: Speer, Schirach, beide hatten mehr als die Hälfte ihrer zwanzigjährigen Haftstrafe hinter sich, und Rudolf Hess, der lebenslänglich dort war.

 

 

Die wiederbelebten Fenster-Studien warf Speer im März zum Fenster hinaus; damit brach eine weitere dünne Verbindung zu seinem eigentlichen Beruf ab. Kurz zuvor hatte Speer Wolters gebeten, ihm einen aktuellen Knigge zu besorgen, damit er sich im Falle einer Amnestie ausgiebig auf die Rückkehr in die gute Gesellschaft vorbereiten könne. Die Verbindung zu den Kindern war ebenfalls schwer aufrecht zu erhalten in jenen trüben Tagen von 1957, als die Hoffnungen der Spandauer Drei, Strafmilderung zu erwirken, kurzzeitig aufblühten und dann wieder schwanden. Ein Besuch von Ernst und ein 'entfremdeter' Brief von Hilde im Oktober vertieften Speers Melancholie nur noch; immerhin hatte der schwierige Fritz ein exzellentes Abitur hingelegt und studierte nun Chemie.

 

 

Gelegentlich schwappte die Außenwelt über die Gefängnismauern hinweg, zwar immer nur kurz aber heftig genug, um hin und wieder einen Tagebucheintrag zu provozieren, wie zum Beispiel aus Anlaß der zweifachen Weltkrise im Herbst 1956 - Suez und Ungarn. Der erste Sowjet-Satellit, Sputnik I (KURSIV), erinnerte einen besorgten Speer im Oktobers 1957 an die Aufregung, die er wegen Wernher von Brauns Versuch empfunden hatte. Hier waren nun die Russen mit einem wissenschaftliches 'Ersten Mal', was in einer Zeit anhaltender Ost-West-Spannungen ein schlechtes Zeichen war, und für die Gefängnisinsassen somit das Gegenteil von guten Nachrichten bedeutete. Im selben Monat wurde der Sozialdemokrat Willy Brandt zum Oberbürgermeister von Westberlin gewählt.

 

 

Am Ende des Jahres verlor Speer seinen verläßlichen holländischen Boten, Toni Proost, nachdem sich in der Hauptstadt des geteilten Deutschland ein reales Drama abgespielt hatte, gegen das jeder fiktive Agententhriller harmlos anmutet. Zu Weihnachten besuchten Toni, Irmgard und ihr Baby Irmgards Mutter in Ost-Berlin. Sie verbrachten einen netten Heiligabend zusammen, indem sie Geschenke austauschten, darunter auch solche, die aus dem Schulfonds bezahlt worden waren. Am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages klopften jedoch zwei Russen an ihre Tür und baten um Hilfe; einer der beiden habe sich bei einem Autounfall ein Bein gebrochen. Die beiden baten Proost, sie schnell zu ihrem Stützpunkt in Karlshorst, am Rande der Stadt, zu fahren. So schwer es auch fällt, dies zu glauben, Proost, nichts böses ahnend, willigte ein. Als sie angekommen waren, lockten die Russen Proost in ein Zimmer, schlossen die Tür ab, sprachen ihn mit seinem vollen Namen an, bedankten sich für die Hilfe und drängtem ihm den bescheidenen Betrag von fünfzehn Mark in westlicher Währung auf. Dann sagten sie, daß sie ihn, weil er stets gut mit den Russen in Spandau ausgekommen sei, gerne zu ihrem Agenten gegen die westlichen 'Kriegstreiber' machen würden. Sie ließen keinen Zweifel daran, daß dies ein Angebot war, welches man nicht ablehnen konnte, und zwangen ihn, ein vorbereitetes Schriftstück zu unterzeichnen, in dem er sich verpflichtete, Stillschweigen über dieses Arrangement zu bewahren. Zwei bereits in Spandau befindliche Agenten, so seine Entführer, würden Kontakt mit ihm aufnehmen, und ihm am 5. Januar den ersten Auftrag erteilen. FUßNOTE (4)

 

 

Der entsetzte Proost sagte zu allem Ja und Amen, berichtete nach seiner Rückkehr in den Westteil der Stadt jedoch klugerweise von diesem Zwischenfall. Das Niederländische Konsulat (er besaß noch deren Staatsangehörigkeit), die britische Militärpolizei und der englische sowie der amerikanische Gefängnisdirektor erteilten ihm den einhelligen Rat, Spandau und Berlin auf der Stelle zu verlassen. Irmgard wandte sich mit der dringenden Bitte an Wolters, ihnen bei den Umzugs- und Reisekosten unter die Arme zu greifen; sie sagte, sie hofften nach Holland zu ziehen.

 

 

Wolters konnte Kempfs und Gretel Speers Unterstützung bei der Emigration der Proosts gewinnen. Toni verließ Berlin, um seine Familie in Flushing aufzusuchen und sprach auf dem Weg bei Coesfeld vor. Wolters versprach, für ihn einen Job an der Grenze zu suchen, so daß er in Ost-Holland leben und in Westdeutschland arbeiten könne, und verwahrte in der Zwischenzeit seinen Besitz. Die Proosts von Spandau wegzubringen, kostete annähernd 2000 Mark. Der Schulfonds war zu diesem Zeitpunkt (trotz einer Sonderkollekte unter den alten Gefolgsleuten im Januar 1958) überlastet, denn Wolters hatte es zunehmend schwerer, die Mitglieder von Speers schrumpfenden Unterstützer-Zirkel bei der Stange zu halten. Die Notwendigkeit, Speers umgänglichen Hauptboten auszulösen - dies war sicherlich sein Lohn für die erwiesenen Dienste, aber es war auch vorausschauend, daß er sich ihn (und seine resolute/entschlossene Frau) warm hielt - veranlaßte Wolters anstelle dessen, sich wegen der 2000 Mark an Margret zu wenden. Mit ihrer Zustimmung organisierte er die Versteigerung einiger Glaswaren der Familie Speer, wobei die Summe der Mindestgebote dem gewünschten Betrag entsprachen. Der Verkauf erbrachte mehr als 3.200 Mark, und Wolters konnte die Einnahmen ihr im Sommer 1958 endlich überweisen; dadurch wiederum war sie in der Lage, jenes Darlehen zurückzuzahlen, das sich Kempf von ihrem politischen Arbeitgeber hatte leihen (UMGANGSSPRACHLICHER, ABER NICHT SALOPP !) können.

 

 

Abschweifend darf ergänzt werden, daß Proost eine Reihe kurzfristiger Jobs in Deutschland annahm, und ab 1960 mit seiner Familie im schleswig-holsteinischen Eutin lebte, wohin auch die unstete Annemarie Kempf zurückgekehrt war, um erneut mit behinderten Kindern zu arbeiten. Der Schulfonds und die Familie Speer schickem ihm von Zeit zu Zeit Geld, während er sich abkämpfte, um eine neue Karriere als Bauzeichner zu beginnen. Doch der glücklose ehemalige Krankenpfleger wurde plötzlich sehr krank und starb nach einer langen Krankheit am 14. Juni 1962 im Alter von nur achtunddreißig Jahren im Schlaf. Seine Witwe versuchte im Sommer 1964, bei Wolters einen Kredit über 3000 Mark für ein Bauvorhaben in Eutin zu erbitten, doch der Schulfonds vermochte diese Summe nicht zu tragen und Wolters mußte ihr den Wunsch mit (einem) Bedauern abschlagen. FUßNOTE (5)

 

 

Proost hatte mit einem Arzt namens Dr. Erich Heins (der in der Speer-Wolters-Korrespondenz den Codenamen Heinrich trug) aus Charlottenburg, Westberlin, zusammengearbeitet; dieser Dr. Heins hatte als Mittelsmann für die von und nach Spandau geschmuggelte Post fungiert. Nach Proosts 'Resignation', Ende 1957, fand lediglich eine kurze Unterbrechung statt, dann tauchten in der Postkette neue Westberliner Verbindungsleute auf; so zum Beispiel Irene Böttcher, die ihrem 'Onkel Alex' (Speer) alle möglichen Dinge, wie Weinflaschen und Kaviar, besorgte. Dann gab es noch eine junge Frau namens Maria Wieden, geborene Herbst, die auf Empfehlung von Irmgard Proost gekommen war; durch sie vermochte Hilde mit ihrem Vater in Kontakt zu bleiben, ohne daß sie Wolters belästigen mußte.

 

 

Als Hilde nach ihrem zweiten einjährigen Amerikaaufenthalt (diesmal zwischen Schule und Universität) zurückgekehrt war, wurde sie im Herbst 1957 in der Kampagne zur vorzeitigen Entlassung ihres Vaters dessen wichtigste 'Botschafterin'. Bei sich trug sie einen Brief an Gretel; er stammte von John J. McCloy (IM ORIGINAL: VON GRETEL AN MCCLOY = UNLOGISCH???) , der von der außergewöhnlichen jungen blonden Frau nach der zweiten Begegnung noch beeindruckter war.

 

 

Bei jener 'Entfremdung', die Speer aus ihrem in New England geschriebenen Brief vom Oktober 1957 herausgelesen hatte (sie wohnte bei derselben Familie), kann es sich nur um eine momentane/vorübergehende Laune gehandelt haben, denn Hilde, die in Tübingen und Bonn studierte (zunächst Germanistik und Latein; später Soziologie und Erziehungswissenschaften), unternahm nach ihren ersten beiden Studiensemestern immer mehr Anstrengungen, um ihren Vater aus dem Gefängnis zu holen. Sie stand mit Werner Schütz in Kontakt, der im Frühjahr 1958 erkrankt war, und fing kurz danach an, bei westdeutschen Politikern zu intervenieren.

 

 

Immerhin schaffte sie es, einen engen Berater Adenauers zu treffen und sich mit Außenminister Brentano, Bundespräsident Lübke und führenden Politikern der Sozialdemokratischen Partei zu unterhalten, so zum Beispiel mit Carlo Schmid, Herbert Wehner und schließlich auch mit Willy Brandt (einem unverbesserlichen Frauenliebhaber/Frauenverehrer, der von ihr am meisten angetan war). Karl Maria Hettlage, einst Finanzchef in Speers Reichsministerium, war seit Frühling 1959 Staatssekretär im bundesdeutschen Finanzministerium; auch ihn traf Hilde. In Speers Briefen, die Wolters im Sommer 1958 empfahlen, wie man die Kampagne zu seiner Freilassung organisieren und wann beziehungsweise wo Hilde für ihn aktiv werden solle, wurde Konrad Adenauer 'AdŠle' und Heinrich von Brentano 'Brenner' genannt. Durch die begleitende/flankierende Pressekampagne zuvor hatte man aufwendige Artikel in den größten Wochenzeitschriften wie Stern (KURSIV) und Quick (KURSIV) lanciert; als Folge davon erhielt Speer ungefähr 300 Geburtstagglückwünsche. Er wollte, daß Hilde an Franz Josef Strauss herantrat, also an den rechtskonservativen Führer der Christlich Sozialen Union, die wiederum bayerische Schwesterpartei von Adenauers Christdemokraten war. Sämtliche dieser führenden deutschen Politiker befürworteten die Freilassung der Spandauer Drei; einige sagten dies in der Öffentlichkeit.

 

 

Speers manipulative Gefängnisergüsse erreichten fast die Grenze der Hysterie, als er versuchte, jede nur erdenkliche Hilfs- und Sympathiequelle anzuzapfen, um einen erneuten Appell an alle vier Mächte zu richten, die in Spandau das Sagen hatten. Es gab da eine deutsche Gräfin mit englischen Beziehungen. Und eine von denen kannte einen gewissen Lord Kilmuir (den in den Adelsstand erhobenen Sir David Maxwell-Fyfe von der britischen Staatsanwaltschaft in Nürnberg). Im Hinblick auf ihn unterlief Speer ein interessanter Fehler:

 

 

'Falls möglich, wäre es das Beste, wenn dieser (britische Kontakt) mit Lord Kilmour (sic) spräche, der, obgleich Jude (2x KURSIV) (Hervorhebung des Autors), meiner Einstellung gegenüber in Nürnberg Sympathie bezeugte.' (! ÜBERSETZUNG !)

 

 

Lord Kilmuir war kein Jude, aber gleich vielen anderen englischen Politikern, an die sich Hilde bis Ende 1959 gewandt hatte, war er in der Tat ein Sympathisant. Selbst der Premierminister, Harold Macmillan, schickte ihr einen herzlichen Brief; eine Tatsache, die Speer verblüffte, wenn es auch nur die Ersatzhandlung eines vollendeten Politikers war. Sie vermochte auch 'Cassandra' (Bill Connor) für sich zu gewinnen, jenen einflußreichen Kolumnisten von der sozialistischen Daily Mirror (2x KURSIV), die sich damals der größten Tagesauflage erfreute. Wen wundert es da, wenn Wolters im September 1958, in seinem ersten Brief, seit Proost Ende des vorherigen Jahres weggegangen war, bewundernd über Hilde schreibt: 'Sie ist das beste Pferd im Stall.'

 

 

Wolters berichtete Speer, er habe Schütz, mittlerweile Minister im Bonner Kabinett, 3000 Mark 'bar auf die Hand' angeboten, wenn er sich wegen des Falles Speer mit Adenauer unterhalten würde (deutschen Politikern braune Briefumschläge mit Bündeln von 1000-Mark-Scheinen zuzustecken, war offensichtlich bereits damals en vogue, obgleich diese Praxis wohl erst in den 70er Jahren ihre Blüte erreichte). Schütz lehnte ab (brach die Beziehungen jedoch nicht ab), was bedeutete, daß Hilde das Geld für Auslagen und Ausrüstung wie Kassettenrecorder, Schreibmaschine und Telefon verwenden konnte. Der Schulfonds war mit monatlichen Einkünften zwischen 5.500 und 335 Mark in gesunder Verfassung.

 

 

Hildes Bemühungen innerhalb Frankreichs, einem in dieser Hinsicht viel härteren Pflaster, erbrachte immerhin eine Neuigkeit aus zuverlässiger Quelle, derzufolge Charles de Gaulle, nach dreizehn Jahren im politischen Abseits gerade wieder ins Amt berufen, ebenfalls die Ansicht vertrat, daß man Spandau schließen und die drei Häftlinge auf freien Fuß setzen sollte. Von einer Petitionsreise nach Moskau riet Speer seiner Tochter ab. Wolters, der sie für 'eine erstklassige Schauspielerin mit großem Charme' hielt, empfahl Speer 1960, er möge ihr erlauben, ein oder zwei Urlaubssemester zu nehmen, um sich vollständig der Kampagne widmen zu können. Speer lehnte diesen Vorschlag ab (keiner der Korrespondenzler (?) verfiel auf den Gedanken, Hilde, mittlerweile in ihrem vierundzwanzigsten Lebensjahr, nach deren Meinung zu fragen), und bat Wolters, ihr nahezulegen, daß sie ihren Einsatz nicht übertreibe. Das Klima, für solch ein Thema die Werbetrommel zu rühren, wurde ungünstig, als Adolf Eichmann im August in Israel der Prozeß gemacht wurde. Abgesehen davon hatte Hilde in Tübingen einen Germanistikstudenten namens Ulf Schramm kennengelernt und sich in ihn verliebt.

 

 

Die großangelegte/hochkarätige Begnadigungskampagne verlief gegen 1960 allmählich im Sande; Bonn verlor das Interesse und die Ost-West-Beziehungen waren nicht eben dazu angetan, irgendeine Einigung unter den vier Mächten zu erzielen. Hilde wechselte zum neuen Semester im März 1960 an die Bonner Universität, was nützlich war, um den Kontakt zum westdeutschen Politestablishment aufrecht zu erhalten, wann und wie es jeweils zweckmäßig erschien. Wennimmer sich eine Gelegenheit bot, kämpfte sie auch weiterhin für ihren Vater. Ihr ältester Bruder, Albert Junior, erwarb im November 1960 den gleichen Hochschulabschluß wie sein Vater, ein Ingenieurdiplom als Architekt. Hilde verlobte sich im Juli 1961 (zur selben Zeit, als Speers Rund-um-die-Welt-Wanderung ihn nach Sibirien führte) und heiratete im August ihren Ulf (sie bekamen zwei Kinder). Sie studierte allerdings weiter und promovierte 1965 zum Dr. phil. Ulf avancierte, gutmütig wie er war, zum gelegentlichen Briefpartner Speers, der den frühreifen Verstand seines Schwiegersohnes bewunderte. FUßNOTE (6)

 

 

Jede noch bestehende Hoffnung auf einen Konsens der vier Mächte, Spandau zu schließen, wurde im August 1961 endgültig zerschlagen/zunichte gemacht, als das ostdeutsche Regime mit russischer Rückendeckung über Nacht die Berliner Mauer errichtete - jenes verzweifelte Bollwerk gegen die schleichende Flut von Auswanderen, die in den Westen wollten. Die Anspannung in der Stadt war die schlimmste seit dem Krieg und innerhalb des Gefängnisses deutlich spürbar. Und als die Zuchthausordnung nach einer langen Phase des Laissez-faire wieder verschärft wurde, versank Albert Speer in einer neuerlichen Depression; den Spandauer Dreien wurde ein umständliches Hausarbeitsprogramm auferlegt, was den Effekt hatte, daß Speer weniger Zeit zur Gartenarbeit und zur geistigen Weltumrundung blieb. Doch das rigide Programm, vom amerikanischen und russischen Gouverneur in nie dagewesener Eintracht festgelegt, begann schon nach wenigen Wochen wieder zu erodieren. In der letzten Hälfte des Jahres 1961 flaute die Korrespondenz zwischen Onkel Alex und seinem Freund in 'Coburg' ab, da Wolters an Bluthochdruck litt und sich einer Kur unterzog, während die unglückliche 'Übersetzerin' Marion Riesser mit einem Zwölffingerdarmgeschwür ins Krankenhaus mußte.

 

 

Es gibt keinen Beweis, der eine solche Theorie stützt, aber die so anschaulich vorgeführten gemeinsamen Anzeichen von Erschöpfung sind aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest teilweise ein Ergebnis des unermeßlichen Berges an zusätzlicher Arbeit, die die beiden auf freiwilliger Basis für Speer erledigten. Frau Wolters beklagte sich darüber, daß ihr Mann seinen eigenen Sohn und seine eigene Tochter (sowie sie selbst) vernachlässigt habe, wogegen er den Angelegenheiten Speers beziehungsweise denen seiner Frau und Kinder viel zu viel Zeit, Kraft und Geld opfere. Fritz, den Wolters für das reifste der Speer-Kinder hielt, verbrachte am Ende des Sommers zehn Tage bei ihnen; auch Margret kam für einige Tage zu Besuch (sie sollte im März 1962 heiraten). Unterdessen setzte Speer im August einen Brief auf, in dem es heißt, er habe in den vergangenen acht Monaten lediglich drei Stunden an der freien Luft zugebracht; dies kann schwerlich der Wahrheit entsprechen, da er weiterhin um den Globus marschiert war, wenn auch mit einem zeitweise eingeschränkten/reduzierten Tagespensum von durchschnittlich drei Kilometern; und das wird er wohl kaum innerhalb seiner Zelle oder im Gang absolviert haben.

 

 

Drei Viertel seiner Strafe hatte Albert Speer nunmehr hinter sich gebracht. Die Tagebucheinträge waren seltener geworden und der Aufwand an Energie für sein privates Netzwerk merklich bescheidener. Das Jahr 1962 verlief ohne nennenswerte Ereignisse. Am 28. Januar vertraute Speer seinem Tagebuch ein kurzes 'Glaubensbekenntnis' an: 'Ich glaube an eine Vorsehung Gottes, ich glaube auch an seine Weisheit und Güte, vertraue auf seine Wege ... Der Ablauf der Geschichte ist nicht das Werk der Mächtigen. Die glauben nur zu bewegen und werden bewegt.' (ZITIERT NACH TAGEBUCH, S.551) Es handelt sich dabei um einen isolierten Eintrag, ohne jeden Anhaltspunkt, wodurch er motiviert war.

 

 

Zu einem späteren Zeitpunkt desselben Jahres hatte Speer einen Traum, der nur deshalb von Interesse ist, weil er von Professor Erich Fromm analysiert wurde, jenem berühmten deutsch-amerikanischen Psychologen, Mitbegründer der Theorie der autoritärer Persönlichkeit (AUTHORITARIAN PERSONALITY) und Analytiker der nihilistischen Grausamkeit (NIHILISTIC BRUTALITY). Am 13. September träumte Speer von sich selbst, wie er eine Fabrik ausfegte, bevor Hitler sie inspezierte. Anschließend kam er nicht mit dem Arm in den Jackenärmel, während er in einem Auto zu einem Platz mit einem Denkmal gefahren wurde, wo Hitler einen Kranz niederlegte; dann betrat Hitler ein großes Gebäude voller Gedenksteine und legte eine endlose Reihe von Kränzen nieder, wobei er einen Gesang in der Art gregorianischer Choräle anstimmte. Dies alles, so Fromm, zeige, daß Speer in Hitler einen 'Nekrophilen' gesehen habe, einen, der den Tod liebt. FUßNOTE (7) Speer wagte keine Eigenanalyse sondern ließ den Traum für sich selbst sprechen. Die beiden Herren lernten sich nach seiner Entlassung kennen.

 

 

Im Oktober 1962 brach die Außenwelt wieder einmal auf brutale Weise in das Gefängnis herein, als durch die Kuba-Krise der Weltfrieden in Gefahr geriet und Präsident J.F. Kennedy, der bald darauf das eingeschlossene Berlin besuchte, Chrustschow und Castro in die Kniee zwang. Die Anspannung innerhalb der Gefängnismauern spiegelte die Atmosphäre der Konfrontation wider, die draußen erzeugt wurde, wobei Deutschland der Tatsache ins Auge blicken mußte, zum Schlachtfeld der zusammengerotteten Armeen aus Ost und West, mitsamt ihren Nuklearwaffen, zu werden. 'Die Eintönigkeit der letzten Wochen ist wie weggewischt.' (ZITIERT NACH TaBu, S.560) Speers Moral sank noch tiefer, als der neunzehnjährige Ernst ihm einen weiteren seiner pausenlos vor sich hinbrummelnden und distanzierten Besuche abstattete, erlebte dagegen am darauffolgenden Tag, dem 3. November, einen momentanen Höheflug, als Hilde es geschafft hatte, mit Willy Brandt zu reden, der ihr versprach, er wolle sich für die vorzeitige Entlassung ihres Vaters einsetzen. Das Treffen war natürlich von langer Hand vorbereitet worden; aber unter den gegebenen Umständen hätte man kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt festlegen können: Ohne sowjetische Zustimmung konnte nicht der geringste Beschluß gefaßt werden, und Moskau bestand darauf, daß die Gefangenen jede einzelne Minute ihrer Strafen abzusitzen hatten. Es war ein russischer Monat in Spandau, und die Russen machten den Häftlingen das Leben schwer.

 

 

Im Mai 1963 gab Speer das Rauchen auf; im August wurde er dank seiner Tochter Margret Großvater; im Oktober erfuhr Speer, daß Wolf Jobst Siedler, der namhafte Chef des Ullstein Verlages sowie dessen Imprintverlages Propyläen (Berlin und Frankfurt), nach seiner Freilassung die Memoiren veröffentlichen wollte. Speer beschäftigte sich das ganze Jahr lang sehr eingehend mit diesem Projekt; davon zeugt eine Verfügung, die er am 6. März 1963 mit seinem Füllfederhalter auf einem Blatt hellblauen Luftpostpapiers notierte. Darin legte er zunächst fest, daß ausschließlich Hilde Speer, von der in der dritten Person die Rede ist, das Recht habe, zu entscheiden, wann, wo, von wem, für wieviel und in welcher Form seine Memoiren im In- und Ausland publiziert werden. 'Sie ist autorisiert, jedwede Veränderung vorzunehmen, die sie für richtig hält.' (! ÜBERSETZT ! - ANGEBL. HAT KOLF BZW. BAUDISCH ORIGINAL-ZITAT!) Zweitens wurden zehn Prozent der Vorauszahlung dafür bestimmt, die Vorbereitung des Manuskripts zu finanzieren. Drittens sollten zwanzig Prozent vom Restbetrag unter 'To und Mo' (der holländische und amerikanische Bote) beziehungsweise unter deren Familien aufgeteilt werden, und zwar proportional zur Menge der hinein- und herausgeschmuggelten Sendungen (von dieser Maßnahme sollte schließlich Irmgard Proost profitieren).

 

 

Die Verfügung ist zwar mit einem Datum versehen, weist jedoch keinen Adressaten auf, nicht einmal eine 'Sehr geehrte Damen und Herren'-Zeile. Das Original und Fotokopien davon tauchen alle Nase lang in Wolters' Hinterlassenschaft auf. FUßNOTE (8) Kein Wunder, denn es handelte sich um einen krassen Widerspruch zu Speers Brief vom 10. August 1948 aus Nürnberg, wo er Wolters zu seinem literarischen Agenten und Bevollmächtigten ernennt. Wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, bestand hierin ein weiterer Konfliktherd zwischen Speer und seinem besten Freund: 'Zeitbombe' wäre eine gar nicht mal so gewaltige Metapher.

 

 

Mehr als anderthalb Jahre später jedoch (am 28. Oktober 1964), schreibt Speer an Wolters als ob überhaupt nichts geschehen wäre, wobei er lang und breit die aktuellen Überlegungen zu den Hauptbestandteilen seines Buches ausführt: Seine Zeit als Angeklagter und Häftling, die Aufrüstung, der Bereich Architektur, eine auf der Chronik sowie auf den Mitschnitten von Hitlers Konferenzen beruhende Dokumentation, eine Diskussion der Literatur des Dritten Reichs und sein Material zur 'Fenster'-Theorie. Ein Persilschein sollte das ganze nicht werden. 'Ich bin entschlossen, damit kein Geld zu machen, da es ein Fall von "schmutzigem Geld" wäre,' (! ÜBERSETZT ! - ANGEBL. HAT KOLF BZW. BAUDISCH ORIGINAL-ZITAT!) schrieb Speer. Hilde wird dort nicht erwähnt und der Ton des Briefes hält nachdrücklich an der Autoren-Agenten-Beziehung fest, die Speer 1946 festgelegt hatte.

 

 

Als er sich auf seine Absicht berief/bezog, die Chronik als Quelle zu benutzen, legte er Wert darauf, festzuhalten, daß dies 'unter garantierter Unterschlagung des Verfassers' (ZITIERT NACH SERENY, S. 757) geschehe. FUßNOTE (9) Dies veranlaßte Wolters, die Chronik aus seinem umfangreichen Archiv auszugraben, eine Reihe von Streichungen vorzunehmen und die hart arbeitende Marion Riesser das gesamte, auf diese Weise bereinigte, Dokument abschreiben zu lassen. Rückblickend sah Wolters die Sache 1981 so:

 

 

'1964, zwei Jahre vor der Rückkehr Speers aus Spandau, habe ich die Chronik noch einmal durchgelesen und bei dieser Gelegenheit festgestellt, daß es notwendig war, den ganzen Text abzuschreiben, grammatische und stilistische Fehler zu beseitigen, einige Belanglosigkeiten und Albernheiten wegzulassen, vor allem aber einige Stellen zu streichen, aufgrund derer Speer und der eine oder andere seiner Mitarbeiter hätte belangt werden können. Die Ludwigsburger Zentralstelle für "Kriegsverbrechen" arbeitete noch, und ein Ende der Verfolgungen von Nationalsozialisten war nicht abzusehen.' (ZITIERT NACH KOPIE VON BAUDISCH)

 

 

Man wird auf dieses Bekenntnis an späterer Stelle noch näher eingehen müssen. Doch zuvor wollen zwei andere literarische Phänomene betrachtet werden. Das erste ist die Dissertation von Gregor Janssen, einem Studenten des Geschichtsprofessors Walter Hubatsch von der Bonner Universität. Durch Schütz, der mit Hubatsch bekannt war, und durch Wolters fand diese Arbeit irgendwann anno 1963 ihren Weg bis zu Albert Speer nach Spandau, wo sie laut Wolters 'von erster Hand korrigiert' (! ÜBERSETZT !) wurde; dies kann nur heißen von Speer (der später darauf hinwies, sie sei voller Unexaktheiten gewesen, und der seine Anmerkungen dazu für sich behielt). Die Doktorarbeit wurde zur Grundlage für Dr. Janssens ausgesprochen brauchbares Buch über das Speer-Ministerium (siehe Bibliographie) und dient hier als frühestes Beispiel für Speers manipulative Fertigkeit/Gewandtheit, all diejenigen zu unterstützen, wenn nicht gar zu lenken/dirigieren, die etwas über ihn schreiben wollten und sich in dieser Absicht an ihn persönlich wandten (womit nicht gesagt sei, daß sie alle beziehungsweise immer darauf hereinfielen). In Janssens Buch, erschienen 1968 bei Ullstein, wird der Empfang 'schriftlichen Materials' von Speer, unter anderen, diskret bestätigt.

 

 

In seinem langen, oben erwähnten, Brief an Wolters vom 28. Oktober 1964 warnte Speer ihn allerdings davor, Hubatsch oder irgendjemandem sonst den 'Spandauer Entwurf' zu zeigen, da er eine undichte Stelle befürchtete. Auf eine seltene Art und Weise, seinem Unwillen über seinen geduldigen Brieffreund Ausdruck zu verleihen, wirft Speer Wolters vor, er habe das Memoirenprojekt mit Schütz, Hubatsch und Janssen besprochen und bei Verlegern Erkundigungen dazu angestellt. Auf Hildes Rat hin, die 1963 mit Siedler in Kontakt getreten war (vermutlich hatte dieser Kontakt Speer bewegt, sie zu seiner literarischen Agentin zu machen), hatte Speer sich bereits mehr oder weniger entschieden, das Geschäft mit Ullstein-Propyläen abzuschließen. Wenn er auch in Erwägung zog, Hubatsch nach der Freilassung als seinen politischen Berater in Anspruch zu nehmen, so wollte er doch keinesfalls, daß zu diesem Zeitpunkt, wo er noch der Mittelsmänner bedurfte, um handeln zu können, irgendjemand überflüssigerweise/unnötigerweise mit einbezogen wurde. Als seine Freilassung dann näher rückte, wurde er auch zunehmend ängstlicher, vom Aufsichtspersonal beim Schmuggeln der Briefe erwischt zu werden.

 

 

Die andere literarische Angelegenheit, wegen der Speer sich Sorgen machte, als er sich auf die Entlassung vorbereitete, wurde in einem Brief Wolters' vom 17. Februar 1966 aufgeworfen/zur Sprache gebracht. Diesem Schreiben waren Fotokopien von Auszügen eines neuen Buches beigefügt. Stark von seinen literarischen Ambitionen in Anspruch genommen, verfolgte Speer aufmerksam alle einschlägigen Publikationen, vor allem die Lebenserinnerungen seiner früheren Mitinsassen wie Raeder und Dönitz, deren jeweilige Memoiren er abschätzig beurteilte. Das neuerschienene Buch über Hitlers 'Zauberwaffe' stammte allerdings von einem Engländer, gleichwohl dieser es exklusiv für den deutschen Markt geschrieben und veröffentlicht hatte. Der Verfasser war David Irving, ein höchst umstrittener Historiker zum Dritten Reich und ein Mann mit markigen, rechtslastigen Ansichten, der sich einen Namen als Revisionist gemacht hatte. Er bezweifelte sowohl die allgemein anerkannte Quantifizierung der nazionalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschheit/Menschlichkeit als auch Hitlers Wissen/Kenntnisse davon. Selbst Irvings feindseligste Kritiker erkannten dessen herausragenden Mut und Fleiß als Forscher an. Seine Ansichten machten ihn zweifellos zu einem Schriftsteller, der ganz nach Wolters' eigenem Geschmack war (in späteren Jahren führten sie einen sehr herzlichen Briefwechsel). Speers Resonanz am 8. März war ängstlich:

 

 

'"Zauberwaffen"-Auszüge bedeutend. Offenbar existiert noch irgendwo ein Duplikat Deiner Chronik, denn er zitiert daraus?? Kannst Du ... im Register nachschauen? Eine Kopie der dort verzeichneten Literatur, sofern sie sich auf uns bezieht, würde mich interessieren.' (! ÜBERSETZT ! - ANGEBL. HAT KOLF BZW. BAUDISCH ORIGINAL-ZITAT!)

 

 

Wolters antwortete am 1. April 1966:

 

 

'Es gibt bei Irving kein Register ... Die Chronik existiert noch aus der Zeit des GBI in einer weiteren Abschrift bei Dr. Lotz, der niemals überredet werden konnte, sie wieder herauszusuchen. Sie wurde nirgends als solche, (oder) als eine namentliche Quelle erwähnt. Ich nehme an, daß es sich bei der Chronik, die Irving benutzt hat, unter bestimmten Umständen um das Chronik-Material von Dr. Goerner handelt, das er willentlich oder unwillentlich den Amerikanern gab.' (DITO)

 

 

Dr. Goerner, ein weiterer Ex-Mitarbeiter, war eine durchaus wichtige Quelle ministerieller Informationen für die Chronik gewesen, wobei er Wolters regelmäßig mit Kommentaren/Anmerkungen versorgt hatte. Er wird sogar namentlich darin erwähnt, weil er bei einer Monatsausgabe für Wolters eingesprungen war: Das Dokument enthält einen Hinweis, demzufolge die Chronik für September 1943 von Dr. Goerner aus dem Gedächtnis neugeschrieben werden müsse, weil das in der Berliner Viktoriastraße 11 befindliche Amtsgebäude des Ministeriums durch einen Bombenangriff am 22. November 1943 zerstört worden sei.

 

 

Speer antwortete daraufhin am 10. April 1966:

 

 

'Es ist wahrscheinlich ein Fall von Goerners Anmerkungen bei Irving. Man muß genauer ausfindig machen, wo sie hingekommen sind. Ich hätte sie in Nürnberg sehr gut gebrauchen können! Vielleicht ist in ihnen auch eine Menge enthalten, was heute nur den Effekt hätte, (meinen Fall) von 1946 zu verderben?' (! ÜBERSETZT !)

 

 

Wolters beendete diesen Briefwechsel am 1. Mai, indem er schrieb, er habe 'niemals irgendetwas von Lodz gehört. Keine Ahnung, ob er überhaupt noch lebt.' Damit war die Angelegenheit für die beiden Herren erst einmal erledigt. Irvings Entdeckung und legitimes Zitieren eines geringen Teils der Chronik zog außerhalb Spandaus oder Coesfelds keine bekanntgewordenen Kommentare oder sonstwelche Reaktionen nach sich. Diese erfreuliche Stille muß Speer ein Übermaß an Sicherheit vermitteln haben, denn weniger als vier Jahre später beging er einen Fehler, der um ein Haar seinen Ruf als unanfechtbare Autorität und einzig lebende Quelle auf dem Gebiet der Nazi-Fühererschaft und Kriegs-Wirtschaft ruiniert hätte - und der seine Behauptung, bereut zu haben, zunichte macht.

 

 

Dieser Schock wird an entsprechender Stelle noch untersucht werden, hier möge der Leser zunächst dies zur Kenntnis nehmen: (a) Speer bestellte Hilde im März 1963 über Wolters' Kopf hinweg zu seiner Literaturagentin; (b) er berichtete Wolters, er habe sich im Oktober 1964 für einen Verlag hinsichtlich seiner Memoiren entschieden; (c) zu diesem Zweck wurde Wolters 1964 beauftragt, die Chronik zu 'bereinigen': Und (d) wußten beide Männer bereits zu Beginn des Jahres 1966, daß das Geheimnis von der Existenz der Chronik aufgedeckt worden war, denn David Irving hatte aus dessen 1943er Exemplar zitiert. All diese Fakten wurden durch Dokumente der Hinterlassenschaft Wolters' an das Deutsche Bundesarchiv zweifelsfrei bestätigt. Worüber uns diese Hinterlassenschaft indes keine (KURSIV) genaue Auskunft erteilt, ist, (a) ob Albert Speer zu der Zeit, da er Hilde ernannte, Wolters von seiner Entscheidung, ihn als literarischen Agenten auszubooten, in Kenntnis setzte; und außerdem, (b) ob Wolters Speer von seiner Bereinigung der Chronik schon zu jener Zeit in Kenntnis gesetzt hat, als er noch damit beschäftigt war. Aber man kann berechtigterweise davon ausgehen, daß weder das eine noch das andere der Fall war, denn (a) Wolters reagierte mit keinem Wort auf die Briefe, die Speer ihm 1964 und danach weiterhin schrieb, als wäre er noch immer sein Literaturagent; und (b) Wolters, der 1964, als er die Bereinigung vornahm, nicht dokumentierte, daß er dies Speer mitgeteilt habe, notierte sich sehr wohl, er habe protokolliert, daß er dem entlassenen Häftling 1966 die umgeschriebene Fassung (3x KURSIV) aushändigte.

 

 

 

Gleichsam wird aus Speers Tagebüchern, ob als Manuskript oder in Buchform, wie auch aus Wolters Dokumentationen, ersichtlich, daß Speer während der ersten neun Monate des Jahres 1966 von der Aussicht auf seine Entlassung besessen war. Diese sollte in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober um Schlag Mitternacht stattfinden. Niemals zuvor seit jener Zeit vor zwanzig Jahren, als er damit hatte rechnen müssen, aufgehängt zu werden, war er dermaßen nervös gewesen. Mit seiner Flut von Briefen, die überquollen vor lauter Anfragen, Panikanfällen, Festlegungen und Umlegungen und in denen er sich bis ins winzigste Detail hinein mit sich selbst beschäftigte, trieb er seinen Freundeskreis und seine Familie zum Wahnsinn. Völlig verständlich: Jeder Mensch, sei er introvertiert, egoistisch, ein 'Kontroll-Freak' oder nicht, würde in einen emotional hochgradig aufgeladenen Zustand verfallen, wenn er im Alter von dreiundsechzig Jahren nach einer Zeit der permanenten und gnadenlosen Einkerkerung, die er mit vierzig angetreten hatte, die Freilassung in eine dramatisch veränderte Welt unmittelbar vor Augen hätte. Sich selbst schon beinahe als alten, gebrochenen Mann sehend, hatte Speer nach seinem sechzigsten Geburtstag, 1965, unter Anfällen von Torschlußpanik gelitten. Überdies deprimierte ihn die im Juli 1965 von den Ostberlinern vorgenommene Zerstörung dessen, was von seinem Kanzleigebäude übrig geblieben war. Die einzig vorhandenen physischen Manifestationen seines architektonischen Werkes, waren ein Spalier von Laternenpfählen in einer Westberliner Straße sowie ein paar Häuser, die er für einen amerikanischen Sergeanten und einen US-Kommandanten, Colonel Eugene Bird, entworfen hatte. Bei seiner Freilassung war er allerdings in erstaunlich guter Verfassung und zeigte auch keinerlei Symptome jener Knie- und Lungenleiden, die ihn in der Vergangenheit schon dreimal umgeworfen hatten. Sein Hauptproblem war die Angst.

 

 

Albert Speer ließ den Gedanken, zur Architektur zurückzukehren, wieder fallen. Nicht nur, daß er den Bezug verloren hatte, auch waren seine beiden früheren Kollegen, Otto Apel und Karl Piepenburg, die ihm mit seiner Entlassung Arbeit versprochen hatten, im Frühjahr 1966 verstorben; darüber hinaus hatte Dipl. Ing. Albert Speer (Junior) im vorhergehenden Dezember einen wichtigen Architekturwettbewerb gewonnen. Speer Senior rechtfertigte seine endgültige Entscheidung, von dem Versuch eines Neuanfangs als Architekt die Hände zu lassen, mit der Behauptung, er wolle seinem Sohn nichts verderben. Eine weise Entscheidung, was auch immer der wahre Grund gewesen sein mag.

 

 

Die Alternative hieß Schreiben. Und sämtliche Anzeichen sprachen dafür, daß es sehr einträglich sein würde. Im Juli 1966 engagierte Wolters, der nach wie vor als literarischer Repräsentant tätig war, einen bereitwilligen Professor Hubatsch als Berater für Speers Erinnerungen (KURSIV) sowie für die bereits hereinströmenden redaktionellen Angebote. Aus den verschiedensten Richtungen winkte die Presse mit ihren Scheckheften. Und Monate bevor sich die Gefängnistür mit einem lauten Knarren öffnen sollte, war eine sechsstellige Summe auf dem Tisch. Die Hamburger Wochenzeitschrift Der Spiegel (2x KURSIV) bot 50.000 Mark für ein erstes Exklusiv-Interview. Es war nicht das höchste Gebot, aber Speer nahm es an, weil dieses Magazin Deutschlands einflußreichstes Medium für Nachrichten (im Unterschied zu Meinungen) war. Werner Schütz erklärte sich bereit, Speer und Wolters bei Bedarf juristisch sowie politisch zu beraten. Unterdessen waren Speer die Nerven durchgegangen, und aus Furcht, in letzter Minute erwischt zu werden, stellte er jeglichen unerlaubten Briefverkehr ein. Der Kassiber-Blackout dauerte vom 1. Juni bis zum 22. Juli.

 

 

Am 1. September schrieb Margret an Wolters einen Brief, um ihm mitzuteilen, daß sie ein abgeschiedenes, zu vermietendes Häuschen am Kellersee in der Holsteinischen Schweiz ausfindig gemacht habe. Es handelte sich dabei um jenes östliche Seengebiet Schleswig-Holsteins, wohin Speer sich 1945 ursprünglich hatte zurückziehen wollen und wohin er damals seine Familie geschickt hatte (Annemarie Kempf und später auch die Proosts hatten ebenfalls Zuflucht in diesem abgelegenen Winkel Deutschlands gefunden, in welchem Eutin die nächstgrößere Stadt darstellt).

 

 

Als Wolters im September für den Schulfonds eine letzte Sammlung unter den getreuen Helfern inszenierte, erlebten die beiden Partner der einzigartigen Brieffreundschaft ihre letzte geheime Korrespondenz. Am 2. August erhielt Wolters ein Glückwunschtelegramm zu seinem vierundsechzigsten Geburtstag, das mit Alex unterzeichnet war. Speer wanderte immer 'um die Welt', die Übung nur einmal am 18. September unterbrechend, als ihm bewußt wurde, daß er 31.816 Kilometer zurückgelegt hatte (also mehr als drei Viertel des Erdumfanges).

 

 

Am 6. September schlug Wolters in seinem letzten Brief nach Spandau vor, fünfzehn von Speers ehemaligen Architekturkollegen und finanziellen Mäzenen in ein luxuriöses Hotel nahe seines Hauses in Coesfeld einzuladen, um mit ihnen gemeinsam einen 'Willkommen Daheim'-Empfang in seinem Haus zu begehen/feiern. Speer reagierte darauf im Kassiber vom 27. September mit einem Programm, über das er, unabhängig von Wolters, schon fieberhaft mit seiner Familie debattiert hatte. Er würde eine kurze Radio-Pressekonferenz geben (er hatte in seinem Transistorradio gehört, daß die Reporter schon warteten und Angebote parat hatten, die sich insgesamt auf 300.000 Mark beliefen) und dann mit Gretel in einem Mercedes-Benz für eine Übernachtung zu einem Hotel im waldreichen Westberliner Randbezirk Grunewald fahren. Er würde Coesfeld so früh, wie in dieser Nacht möglich, anrufen, dann würde er gemeinsam mit seiner Frau und den Kindern zwei Wochen im Norden zubringen - seine 'Quarantäne-Phase', in der er allerdings mit Wolters telefonieren wolle. Und nach diesen ersten vierzehn Tagen in der Freiheit würde er Wolters besuchen. Und so kam/war es auch.

 

 

Der Tagesablauf im Gefängnis unterschied sich am 30. September 1966 durch nichts von der allgemeinen Routine, die sich im Laufe der zwei Jahrzehnte eingeschliffen hatte. Speer und Schirach, dessen Zeit ebenfalls um war, und der das Gefängnis wenige Sekunden nach Speer verlassen sollte, nahmen beide von dem armen verlassenen Hess Abschied. (Er sollte unglaubliche einundzwanzig weitere Jahre alleine dort bleiben, eine einsame Erbse inmitten der steinernen Trommelfestung von Spandau, nach wie vor von den Truppen der vier mächtigsten Armeen der Welt feierlich bewacht - eine pathetische Farce, die schließlich jenen Prozeß beenden sollte, der zweiundvierzig Jahre zuvor in Nürnberg begonnen hatte.)

 

 

Ein Aufseher überbrachte Speer die unwahrscheinliche aber wahre Nachricht, daß Willy Brandt seiner Tochter Hilde, längst wohnhaft in Westberlin, zur Entlassung ihres Vaters einen Strauß Glückwunsch-Nelken geschickt habe. Da sich der Regierende Bürgermeister seinerzeit gerade als Kanzlerkandidat mitten im Bundestagswahlkampf befand, war diese an die Tochter eines Nazi-Kriegsverbrechers gerichtete Geste - von Seiten eines Sozialdemokraten, der, um seiner Verfolgung zu entgehen, aus Hitler-Deutschland geflohen war - von beachtlicher Bedeutung. (Speers Frau die Blumen zu schicken, wäre eine kaum weniger kontroverse Geste gewesen.) Es war indes weniger edelmütig, als vielmehr unbesonnen/ungestüm; Brandt konnte einer hübschen Frau nunmal nicht wiederstehen und hatte Hildes wenige Jahre zurückliegenden Auftritt als Botschafterin ihres Vaters offensichtlich nie vergessen. Der konkrete langfristige Nutzen für Speer selbst bestand darin, daß Willy Brandt, der in der von Dr. Kurt-Georg Kiesinger christdemokratisch geführten 'Großen Koalition' Vizekanzler und Außenminister wurde, jenem Entnazifizierungsverfahren, das so lange über Speer geschwebt hatte, endlich Einhalt gebot. Kein Wunder, daß Speer nach seiner Freilassung SPD-Wähler wurde.

 

 

Einem gestelzten Lebewohl (ZU) den vier Gouverneuren und einer kurzen Begrüßung von Dr. Flächsner und Margret am Ausgang, woraufhin alle drei in die schwarze Limousine stiegen, folgte das Öffnen der beiden Tore um Punkt Mitternacht - sowie ein elektrischer Ansturm von Scheinwerfern und Blitzlichtern der vielen Fernsehkameras und Fotoapparate.

Um 21.15 Uhr am Abend des 20. September 1966 wurde im Postamt des Flughafens Tegel, der sich innerhalb des damals französischen Sektors von Berlin befindet, ein Telegramm zum Nachttarif (OVERNIGHTRATE) aufgegeben - der letzte Triumpf eines bemerkenswert leistungsfähigen und verschwiegenen Postdienstes. Es war adressiert an 'Wolters, Beguinenstraße 14, 4420 Coesfeld', erreichte das Coesfelder Postamt am 1. Oktober um 6.56 Uhr und wurde dem Adressaten telefonisch um 7.03 Uhr zugestellt. Der Text lautete: 'Bitte mich 35 Kilometer südlich Guadalajara Mexiko abholen. Onkel Alex.' Und nach zwanzig Jahren war das kein schlechter Witz.

 

Kapitel 17